Aufruf an die Filmverleiher

Der Verband der deutschen Filmkritik e.V. (VDFK) hat zu einer Unterschriftenaktion aufgerufen, hinter der auch ich voll und ganz stehe.

Im Lauf der letzten Jahre hat sich das „Herding“ der Journalisten in Klassen eingebürgert, was zur Folge hat, dass die eine (höhere) Klasse einen Film wesentlich früher vor dem Start sehen kann als die andere (niedrigere) Klasse. Dies ist in meinen Augen nicht zielführend und sorgt gerade unter den Freien für Probleme, da die Konkurrenten aus höheren Klassen früher liefern können.

Nun ist auch noch hinzugekommen, dass wir nahezu jeden Film auf deutsch angucken sollen. Das ist zwar die Version, die dann in den Kinos gespielt werden wird, aber das Original ist nunmal die meist englische Fassung. Einem Kunstfachmann hält man ja auch nicht den Druck eines Gemäldes zur Beurteilung hin, sondern lässt ihn das Original begutachten, wie es auch von dessen Schöpfer intendiert war.

Nun hat der VDFK einen offenen Brief an die Filmverleiher geschrieben, dem ich mich nur anschließen kann. Filmkritiker (auch Nicht-Mitglieder des VDFK, soweit ich weiß) können bei der Unterschriftenaktion mitmachen, indem sie sich bei buero[at]vdfk.de melden.

Hier der Brief, hier als PDF zum Download:

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Offener Brief an die Filmverleiher in Deutschland

Wahlfreiheit bei den Sprachfassungen – im Zweifel OmU

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir beobachten mit großer Sorge, dass bei den Pressevorführungen Ihrer Filme immer öfter nur noch die deutsch synchronisierte Fassung angeboten wird. Wir kennen die Argumente, die hierfür vorgebracht werden: Kritiker würden diese fordern, um die Filme in der gleichen Version wie das Publikum zu sehen, Nicht-Muttersprachlern entgingen Feinheiten der (oft dialektgeprägten) Originalversion, Kinderfilme sollten zusammen mit Kindern erlebt werden, Abendvorführungen zusammen mit Begleitungen, die der Fremdsprache weniger mächtig seien.

In unseren Reihen gibt es durchaus Kollegen, die sich die Option wünschen, einen Film synchronisiert sehen zu können. Keiner aber fordert, dass Sie lediglich die deutsche Fassung zeigen: Selbst diejenigen, die sich am stärksten dem Serviceaspekt verschrieben fühlen, also der Beurteilung der Produkte, wie sie später im Kino und im TV zur Verfügung stehen, sind sich dessen bewusst, dass nur ein vergleichender Blick auf Original und Synchronversion diese Beurteilung erlaubt.

Wir wissen, dass nicht nur wir, sondern auch die Filmemacher, deren Werke Sie ins Programm aufnehmen, sich wünschen, dass Kritiker ihre Arbeit im Original zu sehen bekommen. Deswegen plädieren wir dafür, jeden Film mindestens einmal in der großen Runde im Original zu zeigen, das heißt in OV oder OmU für englischsprachige Werke und in OmU für alle anderen. Auch hierfür kennen Sie bereits die Argumente, wir wollen sie aber gerne mit allem Nachdruck nochmals vorbringen:

  • Wir fühlen uns als Kritiker stets auch dem Werk verpflichtet, wie es von dessen Urhebern intendiert wurde, samt Stimmen der Schauspieler und Atmosphären der aufgezeichneten Orte.
  • Viele Kritiker schreiben auch für Fachmedien, die sich an Zuschauer richten, die sich für die Originalfassungen entscheiden, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten.
  • Viele Kritiken, gerade im Internet, werden nicht nur zum Kinostart, sondern auch zur DVD-Veröffentlichung konsultiert, wo die Wahlfreiheit der Sprachfassung komplett dem Zuschauer obliegt.
  • Dank neuer Technologie stehen wir vor einer seit langem einmaligen Chance in Deutschland, wieder mehr Kinos die Option zu OmU-Vorführungen zu lassen, weil jetzt nicht mehr wenige OmU-Kopien durch einschlägige Kinos in Großstädten belegt sind. Mit mehreren Fassungen ausgestattete DCPs könnten Aktionen wie die „OmU-Preview“ oder den „OmU-Dienstag“ ermöglichen.
  • Mit der aktuell jüngeren Generation an Kritikern wächst auch eine jüngere Generation an Zuschauern heran, die etwa dank DVDs und Internet sehr viel stärker mit Fremdsprachen und der Verbreitung von Untertiteln sozialisiert wurde.
  • Nicht zuletzt wissen wir, dass es sich immer positiv auf die Rezeption auswirken wird, wenn alle Kritiker die Option erhalten, die Fassung zu sehen, die ihrer Arbeitssituation und ihren Gewohnheiten entspricht.

Uns ist selbstverständlich bewusst, dass es sich bei der Abwägung zwischen den Sprachfassungen immer auch um eine pragmatische Frage handelt. Wir möchten Sie daher im Rahmen Ihrer Möglichkeiten dazu auffordern, immer zwei Fassungen bei den Pressevorführungen der großen Runde zu zeigen. Sollte dies einmal nicht möglich sein, so wählen Sie bitte den Kompromiss der OmU. Hier treffen wir uns in der Mitte – zwischen den Verfechtern beider Seiten. Darauf können wir Kritiker uns einigen. Bitte schließen Sie sich uns an.

VDFK + Unterschriftenaktion

Vorstand des VDFK – Verband der deutschen Filmkritik

Messner

Dieser Film von Andreas Nickel, ein mit nachgespielten Szenen angereichertes Biopic über den Extrembergsteiger Reinhold Messner, hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: einerseits ist er mitreißend durch einen Flow von Bildern, der so konzentriert ineinandergreift, wie Messner nach seiner Selbstbeschreibung beim Klettern in einen Flow kommt, die totale Konzentration auf den nächsten Halt, den nächsten Griff – alles andere: Gefahr und Liebe und Geschwätz und Verwandtschaft muss ausgeblendet sein, sonst stürzt er sofort ab – einerseits also ein Flow von Bildern, in der überwiegenden Mehrzahl Flugaufnahmen von Berggipfeln und Kletterwänden und Steilhängen und Schneeflächen, so dass man beim Verlassen des Kinos erst unwillkürlich Tritt zu fassen versucht und bass erstaunt ist, in einer stinknormalen europäischen City zu stehen, andererseits trieft diese Bildwerk auf seiner Textseite so was von Moral und von Rechtfertigungsversuchen, warum Messner nach dem skandalumwitterten und breit und immer wieder durch die Medien getretenen Tod seiner Bruders auf dem Nanga Parbat weiter gemacht habe mit der Extremkletterei, dass man so gar kein gutes Gefühl noch eine Sympathie für Messner erhalten will.

Fette Zwischentitel wie in einem Schulaufsatzheft erinnern an: VERTRAUEN, MORAL, VERANTWORTUNG, SELBSTPRÜFUNG, ERKENNTNIS, ABSCHIED. Letzterer wird im Bild gezeigt als Abschied von seinem Bruder mit dem Familienclan am Fuße des Nanga Parbat vor einer Erinnerungstafel und Messner versucht ein Blumensträußchen anzubringen.

Es gibt wohl wenige Filme mit so vielen Namen in den Credits, hinter denen ein Kreuz steht, wie hier. Messner gibt zwar Begründungen für die Kletterei an: anfänglich, das enge Tal, in dem er aufgewachsen ist, der prügelnde Vater, die einengende Schule; dagegen war die Bergwelt und bald schon das Klettern die Freiheit.

Der Flow von Bildern, die Andreas Nickel hier soghaft ineinander geschnitten und mit viel gängiger und emotionaler, einerseits Klimper- und Klampfen- andererseits erhebender Filmmusik tonal überhöht hat, besteht aus privaten Super-8-Filmen der Messners und Homevideos, stammt aus News-Archiven, von Expeditionen, und immer wieder Reinhold Messner aus dem Heute vor seiner Trutzburg stehend und erzählend, dünner biographisch-chronologischer Faden durch den Film, aus Interviews mit Brüdern von ihm, darunter ein Chefarzt auf einer Neugeborenen-Station, ein Psychiater ferner mit Bergsteigerkameraden und dann noch ein paar deftige Sätze vom Luis Trenker persönlich, schließlich nachgestellte Familien- und Kletterszenen, darunter ein beeindruckender Absturz einer Partners in einer Zweierseilschaft und das sich Derrappeln, das aus dieser verzweifelten Situation schier nicht mehr möglich schien.

Dem Film vorangestellt wird ein Camus-Zitat über den Sisyphos, das Klettern als mühselige Sisyphos-Arbeit gesehen, aber auch als beglückend. Egal, was passiert, Sisyphos rollt den Stein wieder den Berg hinan. Vielleicht weist folgender Satz von Messner am direktesten darauf hin: „und dann bin ich allein am Ende der Welt und weiß nicht, was ich tun soll?“. Vielleicht ist das seine existenzielle Grundfrage – kein Zufall, dass er den Existenzialisten Camus zitiert.

Sound of Heimat – Deutschland singt!

Arne Birkenstock und Jan Tengeler begleiten in diesem ihrem Dokumentarfilm den aus Neuseeland stammenden Musiker Hayden Chisholm auf eine Volksmusikreise durch Deutschland. Chisholm sieht sich als ein Heimatloser. Seine Heimat ist die Musik.

Von Köln geht’s übers Allgäu nach Bamberg und Niederbayern, dann ins Vogtland, nach Wittenberg und schließlich an die Ostsee auf einen abschließenden Segeltörn.

Der Fokus dabei sind nicht Postkartenbildchen oder Luftaufnahmen wie in einigen neumodischen Filmen, die sich in letzter Zeit im Kino versuchten, sondern locker ausgewählte Musiker oder Musikgruppierungen, die sich im schwer und nur breit zu definierenden Bereich der Volksmusik tummeln.

Während der vor einigen Jahren herausgekommene Film „Heimatklänge“ sich auf drei Musiker konzentrierte, die sich mit dem Jodeln und zwar traditionell wie jazzig beschäftigten, liefern uns diese Filmemacher ein unbeschwertes Potpourri durch deutsches Liedgut, das durch die Nazizeit einen immer noch nicht überwundenen Schaden erlitten hat, und wie es sich überall wieder seinen Platz sucht, damit Gefühlen der Menschen Ausdruck verleihend oder den Menschen die Möglichkeit gebend, Gefühlen Ausdruck zu verleihen, wofür es keine andere Ausdrucksmöglichkeit gebe, die aber in dieser Dokumentation auch nicht näher unter die Lupe genommen werden.

Trotz guter Verweildauer beim jeweiligen Objekt ruft jeweils bald wieder der touristische Fahrplan zur Weiterreise, denn sesshaft will der Protagonist nicht werden. Er sucht für sich und seine Musik Impulse.

Am ehesten in Richtung schunkelnder (und sicher auch nicht mehr ganz nüchterner) Geselligkeit, war die Singerei im „Weißen Holunder“ in Köln, wo die Wirtin regelmässig Singabende veranstaltet. Sie gesteht, das sie eine Hemmschwelle überwinden musste. Ein Gast von ihr macht die schöne Bemerkung, dass es mit dem Singen wie mit der Gastfreundschaft sei: auch Noten gegenüber (er meint damit die falschen Töne, die einfach dazugehören zum Gemeinschaftsgesang; wodurch dem Gesang eine Toleranzqualität bescheinigt wird).

Das erstaunlichste Erlebnis scheint mir die Jodelschule im Allgäu. Wie eine Gruppe von Menschen (die höchstwahrscheinlich einen musikalischen Hintergrund haben), wie die im Laufe einer mehrstufigen Wanderung zu einem wunderbaren, mehrstimmigen, Chor zusammenwachsen. Da möchte man am liebsten mit einsteigen.

Diese Sommerreise im Sinne einer fröhlichen Wissenschaft macht anschließend in Bamberg Station beim Anti-Stadl, der der Volkstümelei des Musikantenstadel eines Karl Moik mit viel Freiheit und Improvisation etwas entgegenzusetzen versucht, obwohl auch diese Gruppe offenbar auf massenmanipulatorische Elemente wie „la Ola, jetzt von unten!“ nicht verzichten zu können glaubt. Es ist eine Volksmusik, die „böse“ sein möchte, darum spielen sie das Lied von der „bösen Forelle“. Aber letztlich sind sie natürlich überhaupt nicht böse.

Dann geht’s weiter nach Niederbayern zu den Well-Schwestern. Anschließend nach Leipzig. Der Leiter des Chors des Gewandhausorchesters erklärt im Tourneebus, dass es bei den Volksliedern immer um existenzielle Themen gehe. Beim Stelzenfest im Vogtland werden 100 chinesische Kinder ein deutsches Kinderlied als Musikstück vortragen. Aufhorchen lässt bald darauf der Bandaneon-Spieler Fodel, wie er aus der DDR-Zeit erzählt, wie die Musikgruppen alle zwei Jahre vor einem Gremium aufspielen mussten und dann wurde ihnen gesagt, was erlaubt und was verboten ist. Gedankensprung: wie steht es um den deutschen Film heute, heute in der Bundesrepublik des Jahres 2012, muss hier nicht auch jeder Film von mindestens einem Gremium abgesegnet werden?

Dann wird in Wittenberg Station gemacht bei Bobo. Die hat in der Kirchenmusik angefangen, später Rockmusik gemacht und jetzt singt sie „Es saß ein klein wild Vögelein auf einem grünen Ästelein“ oder mit dem Megaphon „Die Gedanken sind frei“. In Buchenwald erzählt ein ehemaliger Häftling vom zwiespältigen Gefühl zu den deutschen Liedern, denn immer wenn ein geflohener KZ-Häftling wieder dingfest gemacht worden ist, mussten sie singen „Alle Vögel sind schon da“.

Die Reise endet auf einem Segel-Schiff auf der Ostsee, dort wird „Eihoo“ gesungen und die Sänger vom Mast herab fotografiert. Auch wenn sich der Film gut Zeit lässt, so taucht zwischendrin doch das Gefühl auf, er sei nicht ganz ohne Rücksicht auf den Fernseh-Cliffhänger-Rhyhtmus konzipiert worden.

Wie beim ersten Mal

Es gibt Bücher über Paartherapie. Die können sich ganz spannend lesen. Bei den Beispielen läuft es praktisch immer darauf heraus, dass die Partner nicht miteinander reden, dass sie jahrelang Sexualpraktiken ausüben, die keinem von beiden behagen, aber beide glauben, dass es dem Partner gefällt und zwingen sich ihm oder ihr zuliebe dazu. Oder vielleicht noch häufiger ist möglicherweise zu hören, „dass der Ofen aus sei“ in der Ehe. Niemand ist gezwungen sich damit abzufinden. Dafür gibt’s den Paartherapeuten. Oder diesen Film.

Das liest sich in einem Buch sicher schon spannend, wie ein Ehepaar die Liebe wieder entdecken kann nach 31 Ehejahren, aber wenn man so fantastische Schauspieler wie Meryl Streep als Kay, Tommy Lee Jones als Arnold und Steve Carell als Paartherapeut Dr. Bernard Feld im Kino haben kann und wenn diese noch von einem Regisseur wie David Frankel, der uns schon den bemerkenswerten „Der Teufel trägt Prada“ zubereitet hat, so ist der Kinobesuch sicher nicht die schlechtere Alternative, auch wenn Meryl Streep hier Biederkostüme der Sonderklasse ab Stange trägt. Wie das Ehepaar sowieso in einer Art Gruft feiner Furnier-Möbel vom Möbelhaus „Schwer, Prunkig und Unwohnlich“ haust. Denn auch Meryl Streep muss arbeiten. In einem Damenkleidungsgeschäft. Viel Geld kriegt sie nicht auf die Seite damit. Aber die paar Tausend Dollar, die ein mehrtägiger Therapieaufenthalt in Maine, wohin man erst fliegen muss, kostet, die kann sie von ihrem Konto abheben und damit ihrem Mann und sich diesen Therapieaufenthalt schenken. Statt irgendwelche dummen Gegenstände, die nur die Gruft noch gruftiger machen würden. Für den Aufenthalt im Econo-Lodge jedenfalls reichts.

Mehr möchte ich über die Geschichte gar nicht ausplaudern, außer dass diesen fabelhaften Darstellern im Kino zuzuschauen, ein Hochgenuss ist, denn auch die Bearbeitung des Stoffes durch Vanessa Taylor gibt der Geschichte und ihrer Entwicklung eine plausible Linie und nie machen die Protagonisten einen auf Betroffenheit und es wäre schade, auf das schelmische Lachen der Streep, was oft eine kleine Differenz zum Real-TV signalisiert, verzichten zu müssen. Ein pures Vergnügen, das doch in der einen oder anderen Ehe einiges wieder zum Leben erwecken könnte. Gerne auch oraliter.

Schutzengel

Til Schweiger als Produzent, Autor nebst lt. IMDb Stephen Butchard und Paul Maurice und als Hauptdarsteller macht mit diesem kleinen schmutzigen Post-Afghanistan-Streifen genau das, was Dominik Graf seit Jahren in inzwischen berechenbaren Intervallen in der „Zeit“ oder der SZ und ohne jeden Erfolg fordert: deutsches Genrekino.

Ein billiges B-Picture mit überwiegend großen Nahaufnahmen der Darsteller wie sie in Dialoge verwickelt sind und das erzählen, was zu teuer, zu aufwendig zum Inszenieren ist – oder wozu das Drehbuch nicht in der Lage ist, es szenisch zu lösen oder auch Fragen über Krieg und Liebe, über Schutzengel und Glück und Träume  (das eigene Bed & Breakfast), meist gestellt von Nina der „Unschuld“ im Film, Nina, einem Mädchen um die 15, das so unschuldig nicht ist, wie es tut und ganz leicht auch zur Waffe greift. Diese Dialoge sind meist vor verschwommenem Hintergrundbild, was Ausstattungs- und Beleuchtungskosten spart.

Ein dialoglastiger Thriller also, der den Thrill schnell vergisst (wozu haben wir eine ständig vibrierende, Aufregung insinuierende Musik, wenn sie nicht gerade wie das gängige Muster zur Eiswerbung im Kino klingt), ein Thrill vom Til, der der Versuchung zum Melodram nicht widerstehen kann.

Und ist garantiert keine Kriegswerbung, keine Werbung für die Bundeswehr, auch wenn im Abspann die Widmung für einen in Afghanistan getöteten Soldaten steht – vielleicht hat die Bundeswehr finanziell, materiell oder ideell sich engagiert und sich einen Imagegewinn von dem Film erhofft. Die Rechnung dürfte nicht unbedingt aufgehen. Denn die verrohten Veteranen können in der Zivilisation das Schießen nicht lassen.

Was von der Geschichte erkennbar ist: eine etwas in der Luft hängende Rahmenhandlung um einen internationalen Waffenschieber, bei dem ein Kellner und die unschuldige Nina ins Hotelzimmer einbrechen und einen Laptop klauen wollen; die Geschichte endet blutig und Nina als eine der Überlebenden, die eh schon in einem Zeugenschutzprogamm steht, wieso war mir nicht ersichtlich, ist jetzt hoch gefährdet.

Der Personenschützer von Nina ist Max, gespielt von Til Schweiger, ein Afghanistan-Verteran, ein Krieger, ein Kämpfer, wie seine Ex-Freundin Lili ihn nennt und dazu meint, ein Soldat befinde sich immer im Krieg und Soldat sein komme vor allem anderen. Er war immer Soldat, er wird immer einer bleiben. Ein Soldat hat nur dieses Leben. Vielleicht sind das Sätze, bei denen die Bundeswehr Pate gestanden hat.

Die These vom Krieger und Soldat beweist Max nun ausgiebig im Hauptcorpus des Filmes. Dies ist die Dauerflucht von ihm und Nina vor der Polizei, vor den Folgen der in der Luft hängenden Rahmengeschichte, die als Eröffnungsszene auf akzeptablem internationalem Thriller-Niveau präsentiert worden ist.

Diese Flucht gibt nun die Möglichkeit zu beweisen, dass Max hochgradig unter posttraumatischen Störungen leidet, ein Soldat, der immer im Krieg ist; Massaker an Polizisten und SEKlern pflastern seinen Weg, ob im Safe House (in dem ein anderer Afghanistan-Veteran, Moritz Bleibtreu als Beinamputierter, eine kleine Mine, sonst nichts, haust) oder in der Berliner Stadtklinik und noch an ein paar anderen belebten Locations in Berlin. Denn dem Krieger sitzt die Waffe locker.

Das Schöne an diesen Schießereien, für die sich Schweiger viel Mühe gegeben hat, ist, dass die Schützen immer ganze Wände nach dem Siebmuster durchlöchern, als hätten sie gar nicht auf eine Person gezielt. Vielleicht, damit es mehr schön als tragisch ausschaut. Und darum gibt’s auch immer wieder kleine Kicherwitzchen dazwischen gestreut, denn so ganz ernst wollen wir den Thriller nicht nehmen. ein bisschen nett soll das alles schon sein.

Schweigers erste Szene handelt von lactosefreier Milch. Insulin ist ein wichtiges Requisit und Handlungsantreiber, denn Nina muss es sich spritzen. Es kommen Fürze vor, auch verbal, es kommen auch ganz fernsehlangweilige Szenen vor, vor allem wenn Herbert Knaup den Polizeichef mit dem Flachmann spielt, vielleicht ein Rollenmissverständnis, aber generell spielen die Schauspieler gut bei Til Schweiger, er ist ein Vollblutfilmmensch und verlangt das auch von seinem Team. Heiner Lauterbach überzeugt als der Waffenhändler, zeigt fast internationales Format. Auch wenn die Actionszenen gelegentlich im verlässlichen Holzfällertempo gedreht und geschnitten sein mögen. Aber da das Spiel immer intensiv ist, das Interesse von Kamera und Regisseur nah an den Figuren, so tragen die einzelnen Szenen durchaus. Leider fehlt der große Bogen.

Irgendwann ist der Flucht die Puste ausgegangen, die Bauchschusswunde von Max verheilt und so haut Schweiger unvermittelt ein Happy End am Brighton Pier in England drauf. Was solls. Wir sind hier im Genre. Es lebe das Post-Kriegs-Melo.

Speed – auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Eher unwahrscheinlich, dass der Zusatz zum Titel „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ als Hinweis auf Marcel Proust zu werten ist. Der hatte Zeit für die Suche nach der verlorenen Zeit, es war bei ihm ja auch keine verlorene Zeit, die Zeit ist ihm durch die Erinnerung, zum Beispiel an die Gerüche wieder lebendig geworden.

Die verlorene Zeit, um die es hier geht, ist jene, die durch die kapitalistischen Beschleunigungspowers an allen Ecken und Enden fehlt, die zum Burn-Out-Syndrom oder gar zum Aussteigen aus dem System führen kann.

Florian Opitz, der Autor und Regisseur dieses Filmes, hat sich einem Selbstversuch unterzogen. Wie sein erstes Kind zur Welt gekommen ist, ist ihm besonders aufgefallen, wie er nie Zeit habe, und immer weniger, erst recht durch diesen Film, der nebenbei eine Reise mit schönen Kinobildern aus Berlin, München, London, der Schweiz, Patagonien und Bhutan am Himalaya ist.

Opitz machte sich auf den Weg in die verschiedensten Gefilde rund ums Thema Zeit und zu den verschiedensten Propheten, Gurus und Wissenschaftlern, zu Aussteigern und Politikern, wie in Bhutan, wo das Bruttosozialglück wichtiger ist als das Bruttosozialprodukt.

Auch cinematographisch versucht Opitz Zeit zu gewinnen mit vielen Zeitrafferaufnahmen, die wirken immer sehr lustig, aber auch verharmlosend, können aber auch schwindelerregend sein, nicht weniger als die Philosophie moderner, automatisierter Börsen, wie in London, die in Mikrosekundenschnelle auf die Börsenbewegungen reagieren können.

Das heftigste Votum des Filmes kommt am Schluss und dürfte dasjenige von Prof. Rosa sein, der zumindest dem Versuch eines unbedingten Grundeinkommens das Wort redet, denn es sei, dafür verweist er auf renommierte Ökonomen, finanzierbar und es würde dem Menschen Schutz vor der mörderischen Wettbewerbssituation geben, in der der Mensch keine Zeit habe; der Mensch habe ein Recht auf ein Leben und eine Würde auch ohne sich im ökonomischen Wettbewerb auszubluten, auszupowern; wer das aber will, um sich mehr zu leisten, dem stehe das immer noch frei.

Vorher ging die Reise zum „Zeitmanagement-Papst“ Lothar Seiwert, zum Psychiater Sprenger und zur der SZ im Neubau hoch über einer Ansammlung von stehenden S-Bahnen, hier versuchte der SZ-Redakteur Alex Rühle ein halbes Jahr lang ohne Blackberry und Mails und Computer auszukommen, freute sich aber auf die Rückkehr zu diesen. Dann begleitete Opitz eine ausgebuchte Management-Beraterin in einem lang und aufwendig eruierten Termin von einer halben Limousinen-Stunde in Wien. In London war Opitz bei Reuters, die das Geschäft allein mit der Geschwindigkeit ihrer Nachrichten machen, weil ihre Kunden damit Geld verdienen. Von London geht’s auf die Schweizer Alpwirtschaft „Gemsli“, wo die ehemalige „Heuschrecke“ (heute gut gepolstert), ganz rührend versucht Kartoffeln zu schälen oder den Tisch zu decken (ob das ein Glück fürs Leben wird – oder schottet er sich jetzt auf der Alp nicht anders als in seiner Lehmann-Zeit in einer Parallelwelt ab? – wie lange wird es dauern, bis aus der Alpwirtschaft wieder ein Geschäft wird?), ein schöner Begriff von ihm, das „executive Reading“, den Inhalt einer Seite Text in 10 Sekunden mit Querlesen zu erfassen.

Die Familie Batzli, Sennen auf der Alp, die scheinen alle glücklich und sehen sich unter keinem Zeitdruck, der Fritz, der hat nicht mal eine Uhr, entweder hört er die Kirche im Tal oder er hat es im Gespür auf eine halbe Stunde genau.

Dann jettet Opitz nach Patagonien zu Douglas Tomkins, der mit modernen Methoden der Beschleunigung die Entschleunigung einführen möchte in einem großen Naturpark, auch ein ausgestiegener erfolgreicher Manager, der wieder ein nicht ganz rousseauhaftes Zurück zur Natur pflegt, aber den Humor dabei nicht verloren hat – und auf die moderne Beschleunigungstechnik (noch) nicht verzichten kann.

Und schwupps befinden wir uns in Bhutan bei zwei Radiomoderatoren in ihrer Glückssendung oder Opitz unterhält sich mit dem Minister fürs Bruttonationalglück um später in einer der größten Städte festzustellen, dass es mit dem Einzug der modernen Techniken in der Stadt mit dem Glück auch nicht mehr weit her zu sein scheint.

Letztlich ist Opitz nicht unbedingt klüger geworden auf seiner Reise, denn der totale Ausstieg kommt für ihn nicht in Frage, aber das bedingungslose Grundeinkommen, das hat doch eine verführerische Kraft.

Ein Dokumentar- und Sachfilm, den man durchaus im Kino anschauen kann, nicht muss, und der einen sicher mit einem Bündel an Ideen zu den Themen Glück und Entschleunigung aus dem Kino entlässt; unterhaltsam und abwechslungsreich wie eine Tüte mit bunten Bonbons.

Ein trendiges Stück aus der Kino-Modegattung „Weltweite Glücksuche“ – ein reelles Produkt moderner Dokumentarfilmjetsetterei.

Bombay Beach

So malerisch und kinoschön kann die Kehrseite des amerikanischen Traumes, die Verelendung und der soziale Abstieg an einem der tiefst gelegenen Punkte Amerikas am Ufer des kippenden Salton Sees in Kalifornien aussehen – und musikalisch so schön umrahmt.

Und trotzdem, selbst in dieser heißen und zukunftsarmen Gegend, selbst in Bombay Beach, stirbt der amerikanische Traum nicht ganz, als dünnes Pflänzchen zeigt er sich in der Hoffnung von Cee Jay, einem Teenager, es mit einem Football-Stipendium ins College zu schaffen.

Aber auch der Alte, Red, verfolgt seinen unabhängigen amerikanischen Traum, lässt sich nicht abhalten, seine Zigaretten zu verkaufen, steht nach einem Spital- und Erholungsaufenthalt wieder standfest auf den Beinen, nichts kann diesen Amerikaner, der auch schnell mal zur Waffe greift, von seiner Überzeugung abhalten, was die Liebe bedeute, die Nähe zu Menschen, auch wenn er manchmal nicht weiß, wovon sein nächstes Brot bezahlen. Er muss sich in seinem „goldenen Alter“, wie er meint, mit Zigaretten-Handel ein kleines Zubrot verdienen.

Die dritte Hauptperson, die Alma Har’el für diese Dokumentation sich vorgenommen hat, ist Benny Parish, ein Bub im ersten Schulalter aus einer zerrütteten Familie. Die Eltern waren die ersten Lebensjahre des Buben im Gefängnis. Er zeigt hyperaktive Störungen, hat die ersten Kinderjahre in verwahrlosten Verhältnissen verlebt, bis die Eltern in den Knast kamen, weil die nämlich auch gerne mit Waffen und Explosiva hantierten, auch so ein amerikanischer Traum. Der Bub muss mit Ritalin ruhig gestellt werden, und die Eltern, die noch zwei weitere Kinder haben, wollen eine gute amerikanische (das amerikanische nicht explizit erwähnt) Familie werden, mit Hygiene im Haushalt. Man fährt mit dem Buben zum Arzt, zu einer Beratungsstelle für verhaltensauffällige Kinder, dann auch wieder zur Schule; alles sind meilenweite Wege durch Wüste und Trockenheit.

Hier in Bombay Beach fühlen sich die Misfits, die Ausgestoßenen dieser Welt, dieses Amerikas heimisch. Was diese eher bildungsfernen Menschen gemeinsam haben und was sie sowohl theoretisch wie auch praktisch zum Ausdruck bringen, das ist ihre Herzensbildung. Das kann auch sehr weh tun. Gewalt ist da genau so leicht verfügbar wie Umarmung. Der Vater von Benny formuliert sogar masochistische Träume, weil er meint, er hätte viele Schläge verdient, für die Scheiße, die er gebaut habe.

Ab und an inszeniert unserer Regisseurin mit ihren Menschen kleine Tänzchen, wie der alte Red mehrere dicke Frauen betanzt und umarmt, oder wie das junge Liebespaar in einem ehedem lauschigen, kleinen Musikpavillon ein Maskenspiel treibt, dass die Ausdruckslosigkeit der Maske wichtig sei dafür, dass das Verrückte der Bewegung gut rüber komme.

Red hatte übrigens, nachdem er einmal mit Rettungswagen und Rettungshubschauber in die Klinik verbracht worden war, noch lange Alpträume von bösen Schwestern. Nun, eine Klink ist ja auch kein Ort grenzenloser Freiheit.

Benny muss auf Lithium umgestellt werden. Das bekommt ihm erst gar nicht gut. Wie die Mutter am ersten Schultag des zweiten Schuljahres ihn in die Schule bringt und die Klasse gemeinsam aufsteht und einen Text spricht, sitzt er vor seinem Schreibpult, hat den Kopf auf die Schreibfläche gelegt, als könne er sein Glück, dass er jetzt da sei, nicht fassen, als dürfe er es nicht zeigen, Folgen seiner bipolaren Störung, wie seine Krankheit ohne irgend ein Verständnis zu schaffen, ärztlicherseits diagnostiziert wird.

Ganz am Schluss inszeniert die Regisseurin ausgiebig einen weiteren amerikanischen Traum: Benny darf im Feuerwehrauto Endlosschleifen fahren. Vielleicht muss man dazu wissen, dass amerikanische Feuerwehrleute – und nicht nur seit 9/11 – in Amerika Heldenstatus genießen.

Die Moral von der Geschicht: selbst in der heißesten Oednis Amerikas und am Tiefpunkt stirbt der amerikanische Traum nicht.

Blind (Filmfest „überall dabei“)

Im südkoreanischen Waisenhaus, was in diesem Film ab und an eine Rolle spielt, nennen sich alle „Brüder“ und „Schwester“ und die Heimleiterin, eine seriöse Dame, die nennen sie „Mutter“.

Min Soo-ah ist eine junge Frau, die hier aufgewachsen ist und die jetzt auf der Polizeiakademie studiert. Aus diesem Grund trägt sie Uniform und hat auch Handschellen dabei. Sie verfügt über einige körperkämpferische Tricks, mit denen es ihr problemlos gelingt, einen ungehorsamen jüngeren „Bruder“, der bei einer der besten B-Boy-Groups mittanzt, von der Probe wegzuholen und zurück ins Heim zu bugsieren.

Allerdings fesselt sie ihn mit einer Hand ins Auto. Bei der Fahrt zurück zum Heim ist sie einen Moment nicht aufmerksam, fährt auf einer Brücke eine Person an, das Auto kommt in bedrohliche Absturzlage über dem Geländer – und der Bruder kann nicht raus.

Diese kleine Eröffnungssequenz gibt Temperatur und Spannung vor, die Härte der koreanischen Kost des Hauptteils, der drei Jahre später spielt.

Min Soo-ah ist durch den Unfall erblindet und hat sich gut in die Blindenwelt eingelebt und eingearbeitet. Ihren Eigensinn hat sie aber behalten. Sie weigert sich zum Beispiel, den „Ultra-Cane“ zu benutzen, ein elektronisches Hilfs- und Alarmgerät. Und sie darf auch nicht weiter an der Polizeiakademie studieren, denn dass sie ihren Bruder mit Handschellen gefesselt hat, das war ein klarer Verstoss gegen die Vorschriften.

Eben hat sie das Waisenhaus besucht und dort den „Ultra Cane“ abgelehnt, und den Blindenhund Seulgi, den hat sie auch nicht mitgenommen. Mit diesen Informationen ausgerüstet nimmt sie nun den Zuschauer mit auf den Rückweg, in den Regen und damit in Gefahr.

Denn es kommt kein Bus, es kommt keine Taxe, es wird dunkel und der Regen hört nicht auf. Sie steht bar jeglicher Hilfsmittel, die für einen Blinden zum Überleben in der feindlichen Welt der Sehenden nötig und hilfreich sind, da. Erhöhte Gefährdung. Wo aber im Krimi Gefährdung ist, da wächst auch die Gefahr.

Endlich hält ein Wagen und nimmt sie auf. Schnell merkt sie, dass es sich um ein De-Luxe-Taxi handeln muss, denn es hat besondere Sitzbezüge aus feinem Leder. Sie meint zum Fahrer, sie könne sich ein De-Luxe-Taxi nicht leisten und will wieder aussteigen, aber der Fahrer ist damit nicht einverstanden, bietet ihr sogar Kaffee an.

Während der Weiterfahrt stößt der Fahrer gegen einen harten Gegenstand. Er behauptet, ein Tier angefahren zu haben und verstaut dieses im Kofferraum. Min Soo-ah ist allerdings anderer Meinung. Ihr sensibilisiertes Gehör lässt sie auf einen angefahrenen Menschen schließen. Sie steigt aus und will die Polizei alarmieren. Aber der Fahrer braust davon. Min Soo-ah wird Anzeige wegen Fahrerflucht erstatten.

Mit den Informationen, Kenntnissen und Erkenntnissen aus diesem ersten Akt, ferner mit einem ganz jungen Zeugen, Kwon Gi-seob, der sich verdächtigerweise erst in dem Moment meldet, wie eine Belohnung für Hinweise plakatiert wird, und der allerdings behauptet, das Auto sei gar keine Taxe gewesen, ferner mit einem Kommissar, der nicht ganz Klischeekommissar ist, sondern von Kollegen spaßeshalber die Möwe genannt wird, haben Min-seok Choi, verantwortlich für das Drehbuch und San-hoon Ahn, verantwortlich für die Regie, alle Figuren auf dem Spielfeld dieses packenden Thrillers in Stellung gebracht, die sich bald mit einem vorerst nicht identifizierten, nicht identifizierbaren harten Knochen von Gegner konfrontiert sehen, der vor nichts zurückschreckt und die Schwächen seiner Verfolger instinktiv aufspürt und gnadenlos gegen sie verwendet.

Aber es gibt ja Kugelschreiber, die Videoaufnahmen machen können. Ferner achte man speziell auf den Einsatz des Musikstückes „La Paloma“.

Der Film setzt das Thema Blindheit massiv spannungserhöhend ein, auch vor dem philosophischen Hintergrund, dass die Blinden öfter mal die Sehenden sind.

Die ordentliche deutsche Routine-Synchro ist mit dem Genre Action/Thriller angemessen eingesetzt.

Deaf Jam (Filmfest „überall dabei“)

In diesem Film nimmt Judy Lieff, die Dokumentaristin, uns Kulturbürger und Kultur-Konsumenten mit in eine uns normalerweise weitgehend verschlossene Kultur-Region, in die Welt der Gebärdensprache als Ausdruck von Poesie und Dichtung, als Beitrag zum Poetry Slam.

Die Protagonistin heißt Aneta, sie ist eine russischstämmige Isrealin und lebt in New York. Sie besucht die Lexington Taubstummen-Schule in Queens, N.Y. Dort gibt eine Schauspielerin, die sich auf gebärdensprachlichen Ausdruck spezialisiert hat, einen Workshop, wie man sich in dieser Sprache in poetischer Form ausdrücken kann. Der Kurs heißt „Deaf Jam Poetry Project“ und zieht sich über ein Semester hin. Dichtung für Nichthörende.

Wie denn die Welt der Taubstummen für die Hörenden schwer zu erschließen ist. Um einen Eindruck davon zu bekommen, setzt Judy Lieff an den Anfang ihrer Dokumentation einige Szenen, die stumm ablaufen, die aber, wie es im übrigen Film der Fall ist, mit Untertiteln für Schwerhörige versehen sind. Man liest also, was man hören sollte. Sicher eine recht ungewöhnliche Erfahrung für den Hörgewohnten. Jetzt „leichte Pianomusik“, „ein leises Knacken“ „ein Räuspern“.

Die Sprache, in der der Kurs stattfindet, ist die ASL, American Sign Language, denn es gibt nicht die universelle Gehörlosensprache, jede Region, jedes Land, hat seine eigene Gebärdensprache. Sie erfordert große Wachheit vom Zuschauer oder vom Ansprechpartner, hohe Konzentration in den Augen – Kommunikation heißt der Schlüssel.

Rhythmus und Vibration sind entscheidende Elemente für diese Kommunikation. Die Schauspielerin verlangt von ihren Schülern viel: sie sollen nicht einfach Wörter „gebärden“, sie wolle Bilder sehen, sie sollen auf ihre Gefühle horchen, auf ihre innere Stimme, auf das was sie bewegt. Zum Beispiel kann man Wörter zerhacken, um Bilder entstehen zu lassen.

Hier gibt es einen kleinen Einschub mit einer historischen Aufnahme von Alan Ginsberg bei einer Lesung, die in Gebärdensprache übersetzt wird. Aneta nimmt sich die Beat-Generation zum Vorbild. Sie möchte zu einer ähnlichen Gedichtkunst gelangen. An einer Stelle sagt Aneta, dass sie viel gekämpft habe, denn Gehörlose werden in der normalen Welt brutal ausgeklammert, sie leidet drunter, dass sie mit den Hörenden nicht kommunizieren kann, sie möchte sich mit allen Menschen unterhalten und austauschen können; hier in Lexington sei es doch eine sehr kleine Welt; andererseits wiederum wird genau diese kleine, geschützte Welt als sehr angenehm empfunden.

Zur Kommunikation mit der übrigen Welt wird es kommen in diesem Film, zum mindesten mit einem kleinen Teil der übrigen Welt. Wir Hörenden können ja auch nicht mit allen Menschen kommunizieren. Wir fühlen uns schnell isoliert, wenn wir in ein Land kommen, dessen Sprache wir weder lesen, noch sprechen, noch verstehen können.

Es gibt die Angst von Aneta, was sie nach dem College in der realen Welt machen wird. Sie würde gerne studieren an der Gallaudetschule, aber dazu bräuchte sie einen amerikanischen Pass, den hat sie nicht oder 10’000 Dollar (Ermäßigung für Gehörlose; die anderen Studenten zahlen 30’000 Dollar).

Ein Thema sind die „Cochlear Implants“, Hörgeräte, die das Ende der Gebärdensprachenkultur bedeuten würde.

Das Ziel des Poetry Workshops ist ein Auftritt vor der eigenen Schule. Das wird ein Fest. Dann wird aber auch die Teilnahme an einem Poetry-Slam, der von Hörenden bestritten wird, angestrebt. Und es gibt einen kurzen Abriss der Geschichte der Gebärdensprache, die jeweils politische Haltung dazu. Alexander Graham Bell, ein Vorläufer der Rassenlehre von Hitler, der die perfekte Rasse züchten wollte und der Gehörlosigkeit mit der Genetik beikommen wollte. Aber die Gehörlosen geben sich nicht so leicht geschlagen, die werde man so wenig los wie die Kakerlaken, behaupten sie.

Jedenfalls gelangt das „UrbanWorld“ Slam-Team in einem Wettbewerb ins Halbfinale. Das geht allerdings nicht mehr ohne Dolmetscher, endet mit viel Applaus, aber leider nicht auf dem Siegerpodest.

Die Themen der Gedichte sind sowohl „Spermien“, als auch „Wrestling“ oder „der Bauch meiner Mutter“. Aneta ist das Politische am Wichtigsten, der Kommunismus. Die Geschichte im Film rundet sich zu einem glücklichen Ende, wie sich Aneta mit der Palästinenserin Tahani für eine Duo-Performance zusammentut: sprechende Palästinenserin und taubstumme Jüdin. Sie konnte die Bomben auf die Palästinenser-Gebiete nicht hören; und die Palästinenserin hat sich das Schlachtfeld nicht ausgesucht, 2 Dichterinnen, 2 Sprachen, ein Thema, der Frieden, letztlich: Liebe, Leben, Wahrheit.

Nicht-Hören ist eine andere Perspektive auf die Dinge – diese Perspektive versucht dieser Film dem Zuschauer näher zu bringen. Nun, beim eingefleischten Cinéasten dürfte das auf nicht allzu unfruchtbaren Boden fallen: der kennt noch die Stummfilme – sich daran zu erinnern und mit der Gebärdenperformance zu vergleichen kann sehr reizvoll sein.

Mensch 2.0 – Die Evolution in unserer Hand (Filmfest „überall dabei“)

Alexander Kluge und Basil Gelpke, die Macher dieses Filmes, servieren uns wie ein erstklassiger Caterer bei einem hochfeinen Empfang auserlesene Häppchen zum Thema Mensch und künstliche Intelligenz. Als Dekor gibt’s zwischen den Häppchen geschmackvolle Bildimpressionen aus dem Forschungs- und Themenbereich, gekonnt garniert zu ebenso dezent-gediegener Barmusik, je nachdem elektronisch, Jazz, Klavier, wo dem Kulturmensch sein Gusto hinreicht.

So wird der Film denn eher zur bunten, unterhaltsam-lehrreichen Informationsveranstaltung, denn zur grüblerischen theologisch-philosophischen Nachfrage, wie weit der Mensch gehen kann und darf, wo die Ethik anfängt und wo sie aufhört. Diese Fragen werden zwar auch in Häppchen serviert mehr als zwingendes Resultat von sorgfältigem Sammlerfleiß denn als Beitrag zu einer weiterführenden Diskussion.

Denn Wissenschaft und Forschung finden durchaus ehrenhafte Begründungen für ihr Tun: Hilfe bei der Reha oder Lahmen wieder Bewegung zu ermöglichen – sich hier nicht allzu weit von christlichen Wunderwelten entfernt bewegend.

Ein Thema wird allerdings radikal ausgeblendet, die Verwendung dieser Produkte und Techniken für den militärischen Einsatz, zum Beispiel Drohnen. Der Rüstungsindustrie möchte man nicht unbedingt weh tun.

Fündig geworden sind unsere Sammler Kluge und Gelpke vor allem in den USA, in Japan, in England, aber auch in Frankreich, der Schweiz und auch in Deutschland. Kursorisch kann dieser Gang durch die Erforschung und Entwicklung künstlicher Intelligenz nachgezeichnet werden: als kulturgeschichtliche Anknüpfungspunkte für ihre Wissenschaftsconfiserie führen die Macher zuerst das I Ging, Leibniz, Joyce und Beuys an, dann Goethe und Schiller, dazu wird Herr Schirrmacher um eine Stellungsnahme und eine Verwunderung gebeten, der einen Vergleich zu google-Earth bringt. Auch Hans Magnus Enzensberger bekommt einen Auftritt in dieser auseinanderdividierten, intelligenten Talkrunde.

Dann geht’s nach Japan zu Hiroshi Ishigaro, diesen und seinen Roboter-Doppelgänger kennen wir schon aus einem anderen Film. Der Forscher arbeitet jetzt daran, einen Telefonroboter zu entwickeln, ein Roboter, in dem Mensch und Maschine verschmelzen sollen.

Unser Tour d‘ horizon bei dieser sonntagsmatineetauglichen Veranstaltung wird jetzt mit dem Zwischentitel „das zänkische Gehirn“ mit der Info angereichert, dass das Gehirn das komplizierteste menschliche Organ sei, die Eigentätigkeit von einigen Milliarden von Synpasen. Hans Magnus Enzensberger meint, 5 Sinne seien nicht genug, man denke an Temperatursinn, Zeitsinn, den rebellischen Sinn. Anselm Kiefer äußert sich daraufhin zum galaktischen Jahr, das seien 250 Millionen Jahre, in denen unser Sonnensystem einmal um das Zentrum der Milchstraße rotiere; er spricht auch über die kosmische Zeit, die Pflanzenzeit, das seien Parallelwelten; überhaupt sei die Zeit etwas Dehnbares.

Next Stop Japan: Takashi Minato entwickelt einen Roboter, der reagiert, einen Kommunikationsroboter, den CB2. Weiter geht’s in die Schweiz, hier arbeitet Aude Billard an einem humanoiden Roboter, der vor allem durch große Bewegungsfreiheit und Lernfähigkeit punkten soll. Prof. Rolf Pfeifer, ein Erforscher künstlicher Intelligenz, meint, Intelligenz sei über den ganzen Körper verteilt, sensomotorische und Informationsprozesse sind gekoppelt, das Gehirn ist in den physikalischen Organismus eingebettet. Und Rodney Douglas meint, selbst der größte Supercomputer habe bis jetzt nicht eine einzige kreative Idee gehabt.

Zurück nach Japan. In Kyoto stellt uns Angelica Lim einen Roboter vor, der sowohl mehreren Personen gleichzeitig zuhören als auch in Reaktion auf einen Mitspieler metallische Musik spielen kann. Yuzo Takahashi ist der Überzeugung, dass unser Körper ein Meisterwerk sei, dass aber Trainingsroboter für Medizinstudenten einen gute Dienst leisten.

Es folgt ein kleiner Show-Act: ein Soldat in Weltkriegsuniform rettet 25 rohe Eier durch Kanonendonner, Kugelhagel und über ein Minenfeld. Das Beuys-Zitat „ich denke mit dem Knie“ nimmt der Hirnforscher Detlef B. Linke zum Nachdenken darüber, das Nervenzellen im Gehirn zum Beispiel durch Nervenzellen vom Knie ersetzt werden können – oder gar durch eine Benzintankmembran. Er trägt das in einem eintönigen Singsang vor, so dass nie klar ist, ob er das jetzt im Scherz erzählt oder ob es ihm ernst ist.

Weiter geht’s in die USA, hier treffen wir auf den Kybernetik-Forscher Kevin Warwick, er hat einen Selbstversuch mit einem kleinen Chip-Implantat gemacht (das war 2002) und hofft dadurch den fundamentalen Mechanismus des menschlichen Hirns besser verstehen und damit auch ein Mittel gegen Alzheimer entwickeln zu können. Er sieht aber auch die Gefahr, das müsste Science-Fiction-Autoren anturnen, dass die intelligenten Robotiksysteme eines Tages die Menschen überflügeln würden und der Mensch zur Subspezies wird.

Es folgt ein künstlerisches Intermezzo mit dem Iron Man aus Salt Lake City. Anschließend äußert sich der Autor Manfred Osten zum Thema der künstlichen Zeugung, er erwähnt den Homunculus, den postfaustischen neuen Menschentypen; dem setzt er Anaxagoras mit seinem antiquierten Bild, das den Menschen zum König der Pygmäen krönen wolle, entgegen. Und gleich noch eine semi-künstlerische Einlage: die Show vom Roboter Kismet, der Kopf, Hals und viele Gefühlskategorien aufweist.

Bevor jetzt Brian Cox, Marsforscher von der NASA dran ist, wird der gute alte Leibniz bemüht, seine Monaden, die kleinsten Teile, die mechanistisch seien (der Lehre, in der raffinierterweise eh schon alles enthalten ist per definitionem!).

In Lausanne führt uns jetzt José del R. Millàn einen intelligenten Rollstuhl vor, der auf gedankliche Befehle reagieren kann, aber der Befehlsgeber muss sich schon sehr konzentrieren dabei, das meint Miguel Gubler, der Proband.

Wieder über den großen Teich nach Santa Cruz. Hier entwickelt Jacob Rosen Hilfen für Schlaganfallpatienten. Er geht von der Plastizität des Gehirns und dessen Lernfähigkeit aus, Lernen über die Symmetrie der Bewegungen (wobei erhöhtes Bewegungstempo erhöhtes Lerntempo zur Folge hat). John Foglein arbeitet derweil am Exoskelett, das Lahme wieder gehen lässt.

Dazwischen ein weiterer Show-Act: Stelarc aus Australien ist ein Performance Artist, der sich einen elektronischen Dritten Arm verpassen lässt, er nennt seine Performance „posthumane Kunst“.

In Bristol, Vermount, möchte Bruce Duncan das Bewusstsein des Menschen in einen Roboter transferieren. Bina 48 heißt sein Model, sie ist nur ein Kopf, sie ist eine digitale Version von Bina Rothblatt. Ziel von Duncan: er möchte dem Menschen Hindernisse aus dem Weg räumen (und im Hinterkopf das ewige Leben?). Genau, in Boston arbeitet Ray Kurzweil, der 62 ist, wie 70 aussieht und behauptet, organisch sei er wie 40, an der künstlichen Lebensverlängerung. Es folgen einige Beispiele für hyperaktive Greise, der 96jährige Ellsworth Warenham, der vor einem Jahr pensioniert wurde oder ein Greis beim Marathon.

Dagegen wird die Meinung von Aubrey de Grey, einem Altersforscher gesetzt, der meint, gegen das Altern seien wir machtlos; und Gerald Edelmann, der einen Nobelpreis für Medizin erhalten hat, findet es auch keine gute Idee, das Leben immer mehr verlängern zu wollen. So versucht denn stattdessen Takashi Ikegami in Tokyo, ein Informatiker, einen Organismus zu entwickeln, der sich selbst erhalten kann. Er beginnt vorsichtig, erst bei Einzellern.

Zum Ausklang serviert uns Kluge noch das Rätsel des Labyrinths, er unterhält sich mit dem Philosophen Michel Serres darüber; und der meint, wenn man das Labyrinth von oben betrachte, dann sei es ja gar keines mehr, dann sei die Lösung leicht zu finden, dann brauche man den Faden der Ariadne gar nicht – und Europa sei das bestmögliche Labyrinth heute – eine labyrinthische Aussage zu Zeiten der Währungskrise. (KLUGE: Katakombe?).

Forscher und Tüftler, Kuriose allerorten – und hin und wieder fällt für die Menschheit etwas Nützliches ab – eine äußerst anregende wie wohl auch unterhaltsame Sammlung und Zusammenstellung von pointiert ausgewählt Wissenswertem zum Thema künstliche Intelligenz, künstlicher Mensch.