Die Mühle und das Kreuz

Bildbeschreibung kann im Kunstgeschichtsstudium mitunter eine sehr dröge Angelegenheit sein; da geht es um Strukturen, Schraffuren und Konturen, um Lichtsetzungen und Schattierungen, um Faltenwurf und Teints, um Kompositionen, Architektur und Größenverhältnisse, um Querverweise zu anderen Werken des Meisters oder zu anderen Schulen, anderen Stilrichtungen, anderen Epochen. Es handelt sich dabei um ein Fach, was mit dem Anspruch großer Präzision an die Arbeit geht. Bei dem vorliegenden Film handelt es sich um nichts anderes, als um eine ganz spezielle Art der Bildbeschreibung und ich wage zu behaupten, aus dem Blickwinkel eines exklusiven, genialen Bildfälschers oder Bildkopierers oder auch Bildfantasierers. Der aber auch nur in einem sehr entlegenen Winkel unserer Gesellschaft und Wissenschaft aufzustöbern sein dürfte.

Lech Majewski heißt unser genialer Bildner, Bildbeschreiber, Bildnachzeichner, Bildfantasierer, Bildkopierer oder Bildschwadronierer. Erst in der letzten Einstellung des Filmes wird klar, dass er uns doch einen überraschenden Blick auf das Bild „Die Kreuztragung Christi“ von Pieter Bruegel ermöglicht hat und dass die Fälschung fast noch schöner oder zumindest klarer und deutlicher ist als das Original, dass die Fälschung unseren Blick auf das Original zwangsläufig verändert. Der Film: Majewski inszeniert um das Bruegel-Bild herum lauter Szenen, also das Vorher und/oder Nachher dessen, was Bruegel festgehalten hat. Am Drehbuch hat neben ihm auch Michael Francis Gibson mitgeschrieben.

Leider ist Majewski kein genialer Fälscher von Kinospannung. Der Leitfaden, an dem er das Bild für uns in einzelnen Szenen nachstellt und aufzuschlüsseln versucht, wird nie so richtig klar. Man weiß in keinem Moment, wo im Gemälde man sich gerade aufhält. Das führt zwingend zu einem Übergewicht der Statik vor der Kinospannung. Eine Folge davon dürfte sein, dass der Film weitgehend nur von einem Spezialpublikum gouttiert werden dürfte. Vielleicht war das Bewusstsein dieses Sachverhaltes der Grund für Majewski, eine teils schier schmerzhafte Tonkulisse aufzubauen, um ja gehört, ja wahrgenommen zu werden. Wenn in diesem Film Kinder plärren, da möchte man sich Ohrstöpsel reinsteckenen, genauso wenn ein Knecht mit hervorstehender Schamkapsel die unendliche Treppe in dem ausgehöhlten Fels, auf der die das Gemälde dominierende Mühle steht, hinaufsteigt mit seinen Klompen, so knallt das, als wolle Gott das jüngste Gericht ankündigen. Da sollen Müllers unten noch frühstücken.

Was Majewski an Bildmaterial allerdings herstellt und zubereitet, das ist eine gewaltige Leistung. Wie er mit dem Hintergrund umgeht, der immer gemäldehaft erscheint, wie er die Menschengruppen – auf dem Gemälde sollen um die 500 Figuren zu sehen sein – inszeniert, wie gemäldehaft und doch nie erstarrt oder tot.

Einige der Figuren auf dem Gemälde und aus der Geschichte um das Gemälde herum hat Majewski herausgehoben. Es ist der Maler selber, der mit Rutger Hauer weltprominent besetzt ist und von dem wir Hintergründe über den Auftrag zum Gemälde und wie Bruegel vorgegangen ist erfahren. Der Auftraggeber war der Antwerpener Kaufmann und Kunstsammler Nicolas Jonghelinck, der wird von Michael York gespielt, der es laut IMDb auf eine stattliche Liste von 157 Filmtiteln gebracht hat. Er hat einmal einen kleinen Monolog, in dem er über die politische Lage in Holland um 1564 rum räsoniert, dass ihm gar nicht gefällt, was die roten Reiter, spanische Söldner, im Land so anrichten. Ein horribles Beispiel aus dem Gemälde inszeniert Majewski nach, wie die roten Reiter einen Landmann jagen, ihn festnehmen, auf ein Rad binden und dieses oben an einer baumhohen Stange befestigen und den dermaßen Gefolterten den hungrigen Aasvögeln zum Fraß vorsetzen. Weltprominent ist auch Charlotte Rampling. Sie spielt innerhalb des Gemäldes die Maria. Sie darf ihre Blicke kontrolliert und technisch perfekt heben und senken und im Rund schweifen lassen. Sie hat auch etwas Voice-Over-Text. Sie erlebt das Thema des Originalgemäldes hautnah: von der Gefangennahme Christi über die Kreuzigung, die Kreuzabnahme, die Grablegung, die Beweinung; die ganzen Stationen des Kreuzweges und dessen abendländisch-christlicher Ikonographie.

Während auf dem Bruegel-Bild sozusagen nur Stills zu finden sind, so erfindet Majewski die Filmsequenzen drum herum. Die Kinder toben und ihre Schreie schmerzen die Ohren, so ungefiltert hat er die Töne aufgenommen; genauso wie die der brachial ratternden Windmühle. Spielmänner spielen auf. Das Volk tanzt Reigen. Die Menschen stehen auf aus ihren Betten. Bei Müllers wird gefrühstückt. Es sind Illustrationsversuche zu den Bruegelschen Skizzen, die dieser aus seiner Zeit durch Beobachtung des Lebens im Lande genommen habe.

Ein Junge liegt im Gras und ist fasziniert von einem herrlich tauperlenden Spinnennetz mit Spinne drin. Später sitzt der Maler vor eben diesem Spinnennetz, findet eine schwarze Spinne und entwickelt um das System des Netzes seine Philosophie von der Konstruktion des Bildes. Später wird er seinem Auftraggeber erklären, warum er nicht möchte, dass die Hauptszene im Gemälde gleich der erste Augenfang sein soll. Der Müller auf seiner Felsenmühle, der dominiere das Ganze. Bei ihm gehe es um das Brot. Die Kinder balgen sich im Bett. Ein Landmann macht unterwegs eine junge Frau an. Ein Schwert muss gehärtet und geschärft werden. Der Mühlstein mahlt Korn. Ein Kalb muss verfrachtet werden. Unterwegs gibts ein Picknick. Unterwegs an diesem lieblichen Bergabhang ist sowieso viel los. Ein Artist bläst ins Horn. Die roten Reiter betreiben Menschenhatz, Verräter- oder Renegatenhatz und –verfolgung. Auch die Reiter trampeln wie Donner über das liebliche Stück Bergweg, direkt in ein wehrloses Mikro.

Viele historisch intersssante Details gibt’s von der Windmühle. „The Great Miller of Heaven“. Gänse schnattern, auch dieses Schnattern knallt brutal ins Mikro und über die Kinolautsprecher an unsere Ohren, dass man schier flüchten möchte. Stelzengänger sind anzutreffen auf dem lustigen Bergweg. Ein Toter wird in einen Leichensack eingenäht. Vom Baum des Lebens spricht der Maler, vom Kreis des Lebens, in dem sich die Stadt befinde, vom Todeskreis, vom Golgatha, dem Todesberg, dem Todeskreis. Bildkompositionserklärungen. Dann hat Majewski wieder so eine Frauenstimme, die nach Sehnsucht, Ewigkeit und Unerfüllbarkeit singt, dazwischen. Ein junger Mann mit Armbrust taucht ab und an auf. Die Fußwaschung wird gezeigt. Es gibt auch Bilder aus dem Inneren einer Kirche.

Majewski scheint ein besessener Kunstimitator zu sein. Über den liesse sich vielleicht ein spannender Film machen. Im Hintergrund wird das Abendmahl gefeiert. Dann gibt es eine Art magische Szene: die Flügel des Windrades stehen still. Der Müller steht davor, gibt ein Zeichen wie mit einer Fernbedienung und das Windrad fängt an, sich zu drehen.
Christus wird das Kleid vom Leib gerissen.
Die Peitschen der Quäler knallen, dass einem das Trommelfell schier bersten möchte.
Aber wer den Film gesehen hat, der kann was erzählen.

Der Gott des Gemetzels

Es ist ein rechtes Vergnügen, den Stars Jodie Foster, Kate Winselt, Christoph Waltz und John C. Relly zuzuschauen, wie Roman Polanski sie unter Strom setzt, damit sie das Theaterstück von Yasmina Reza nach einer Drehbuchbearbeitung von ihr und Polanski plastisch und mit viel Volt, wenn auch nicht elektrisierend rüber bringen.

Die Idee kommt einem bekannt vor. Stunden der Wahrheit in Paarbeziehungen, am berühmtesten vielleicht „Wer hat Angst vor Viriginia Woolf“. Ganz so wird es hier nicht abgehen. Anlass für die Seelenöffnungen zweier Paare (Penelope und Michael Longstreet, Foster und Relly, und Nancy und Alan Cowen, Winslet und Waltz) ist ein Streit der Kinder der beiden. Ethan Cowen hat Zachary Longstreet bei einer Auseinandersetzung mit einem Ast zwei Zähne rausgeschlagen.

Das führt die beiden Eltern zusammen, um den Sachverhalt zu klären, auch wegen einer allfälligen Entschuldigung. Die Cowens machen also den Longstreets, die im 5. Stock eines New Yorker Hochhauses wohnen, die Aufwartung. Man setzt einen gemeinsamen Text auf. Man scheint sich zu arrangieren. Man trinkt vor der Verabschiedung noch einen Kaffee. Man unterhält sich über Kultur und Zivilisation. Man hält was davon, um dann im Laufe der Eskalation der Gespräche, die immer wieder von wichtigen geschäftlichen Anrufen für Alan, der in der Pharmacie-Branche tätig ist, unterbrochen werden, das Unkulturelle durchbrechen zu lassen, das Unzivilisierte.

Nach und nach dringen in den einzelnen Figuren der Rechthaber durch, das Tier, das Ungeheuer. Die Bacon-Figur, wenn man so will, denn ein Bildband von Bacon liegt auf dem Teetisch. Zuerst geht es um die Söhne. Der eine war Führer einer Gang. Das springt auf die Väter über, denn Longstreet war das auch mal. Das Thema zentriert sich immer mehr auf die beiden Ehepaare selbst.

Es gibt Auseinandersetzungen innerhalb der Paare und zwischen ihnen. Nach dem Kaffee geht man zum Whisky über, Cigarren werden in der Nichtraucherwohnung angeboten. Anfangs gab es Apfel-Birnen-Kuchen und die Frage nach dem Rezept. Erst gibt es Streit über die Kinder, der eine sei ein „Snitch“. Es schaukelt sich weiter hoch über eine Übelkeit von Nancy, darauf gibts eine warme Kola, weil keine im Kühlschrank war, was wiederum Anlass gibt für eine gehässige Bemerkung von Penelope ihrem Mann gegenüber. Dann erbricht vollkommen unvermittelt Penelope und directemang auf den Kokoschka, den Bildband. (Da tut es bestimmt mehr weh als auf dem Bacon). Das setzt eine große Diskussion und anschließend eine Reinigungsaktion in Gang. Mit Föhn und Kölnisch Wasser und auch ein Bügeleisen wird ins Gespräch gebracht. Immer wieder verabschieden sich die Cowens, um sich gleich wieder an den Longstreets festzuhakeln.

Polanski setzt die Schauspieler unter Strom. Er verlangt ein relativ forciertes Spiel, was der Leinwand mehr Druck und damit Räumlichkeit verleiht. Er hat vermutlich sehr präzise Sprachregie geführt. Die beiden Männerfiguren sind immer am Rande, haarscharf am Rande nicht der Klamotte, aber der Komödie, die im Untertext auch erzählt, dass sie Komödie sei. Am Rande der Charge und sehr auf Pointe gesprochen vor allem Christoph Waltz. Aber eine unterhaltsame Charge. Die allerdings letztlich, aber natürlich nicht nur sie, auch die ganze Inszenierung, dem Titel „Der Gott des Gemetzels“, dann doch viel von der Schärfe nehmen, vom Existenziellen. Polanski inszeniert es eher als very funny Boulevardstück, aus dem man ohne Seelenkratzer nach Hause gehen kann. Vielleicht wie nach einer erfrischenden Dusche, einer seelischen Dusche.

Im letzten Drittel habe ich mich allerdings auch mal kurzfristig beim Abschweifen ertappt. Es kann aber nicht Müdigkeit gewesen sein. Es war vielmehr bei einigen Stellen, die mir wie unsichtbare Bruchstellen vorkamen, dass sich mir die Frage stellte, denn „Wer hat Angst vor Virignia Woolf“ hatte ich doch noch mehr aus einem Guss und einem Schwung in Erinnerung, aber man darf nicht vergessen, dass auch die Erinnerung so ihre Spiele treibt. Also mir stellte sich im letzten Drittel ab und an die Frage, ob Polanski sein Ensemble wirklich so kontinuierlich zusammengehabt hat. So wie es das Stück verlangte. Das ist bei den Terminplänen, die diese Stars haben, schwer vorstellbar.

Vielleicht hat Polanski, sich sehr wohl der Problematik eines solchen Dreh- und Probenprozesses bewusst, die Schauspieler höhertourig spielen lassen, als sie dies vielleicht von sich aus täten. Sozusagen um mit einer Art Phon-Verputz Unebenheiten auszubessern, die durch organisatorische Erschwerungen des Ensemble-Spiels entstanden sind, zwingend entstanden sind.

Insgesamt: eine recht brilliante und angenehm kurze Unterhaltung. Eine schöne Illustration zu Bacon und Kokoschka (von dem müsste ich allerdings mal wieder nachdenken, was seine Haltung zu den Menschen gewesen ist).

Die verlorene Zeit

Der Film drückt sicher sehr schön eine weibliche Sehnsucht, ein weibliches Verlangen nach gefühlvoller und sentimentaler Story aus, nach einer reinen Liebesgeschichte, kann aber durch die nicht besonders entwickelte filmische Erzählstruktur sich nicht aus der inflationären Masse der aktuellen Filme, die sich mit Stoffen aus der Nazizeit beschäftigen, herausheben.

Das alte Problem. Da ist eine gute Geschichte. Nämlich die, wie ein polnischer Jude eine deutsche Jüdin aus dem KZ schmuggelt. Es geschieht aus Liebe. Durch die Kriegswirren verlieren sich die Liebenden aus den Augen. Sie suchen sich nicht, weil gut meinende Menschen sie vom Liebeskummer abbringen wollten, indem sie erzählten, der/die Geliebte sei gestorben.

Wie Hannah Levine, die 1944 Hannah Silberstein hieß, und die 1976 in New York verheiratet ist, im TV bei einer Talkshow glaubt ihren damaligen Retter und Geliebten Tomasz Limanowski wiederzuerkennen und die Recherche nach dem Totgeglaubten über das Rote Kreuz wieder in Gang setzt, das ist die Haupthandlung, in die in Rückblenden die Vorgeschichte hineingeschnitten wird.

Das ist eine wunderschöne Story und sie wird hier so aufgedröselt, dass auf das Ende zu, also das Wiedersehen, man sich wie in einer dieser Rühr-Shows beim Privatfernsehen vorkommt. Aber bis dahin vergeht viel Filmzeit, in der sich die Dramaturgie damit begnügt, doch einigermaßen nach Zufallsprinzip Szenen aus dem New York von 1976 (in Hannahs Wohnung wird gerade der Geburtstag ihres Mannes mit einer Gesellschaft gefeiert und wie sie kurz weggeht sieht sie beim Kleiderreiniger dieses TV-Interview) und aus der KZ-Zeit, mal ausführlicher, mal anskizziert und auch die Flucht aus dem KZ und dann die erneute Recherche ineinanderzumixen.

Die KZ-Atmosphäre wird mit viel Hektik und mit vielen und heftigen Reißschwenks und Wackelkamera und auch zackigen Bewegungen der dirigierten Häftlinge evoziert, ein zackiges KZ; aber auch ein eher impressionistisches, viele Szenen, die nur der Atmosphäre und keineswegs der Story dienen. Und dann wieder New York, man weiß also zum Vornherein, wie man dran ist, dass die sich aus den Augen verloren haben, dass sie aber zumindest ein einigermaßen gutes Leben in Amerika gewonnen hat. Also eher eine Art Aquarellmalerei, impressionistisch. Dann die Vorbereitung der Entführungsaktion aus dem KZ, die funktioniert über eine Wärterbestechung mit Wodka und immer muss Tomasz dem Wagen mit den Broten, der mit Stacheldraht umzäunt ist, hinterherlaufen und die Brote zählen und drunter versteckt er die SS-Uniform und die zieht er dann an, das ist alles sehr emotional inszeniert mit viel aufgesprühtem Schweiß auf der Stirn und im Gesicht und dann kann er seine Hannah, Häftling Nr. 73804, die gerade am Boden Brosamen aufliest, hinauskommandieren, „Nummer 73804 mitkommen!“. Beim Lagerausgang einen Wisch dem Wachhabenden hinhalten und der möchte die Frau noch ficken, aber Tomash sagt, er will sie erst selber probieren und dann ab über die Felder, Flucht, Versteck, Unterkunft und dazwischen immer wieder New York, die Party, die betroffene Miene von Hannah, die viel zu viel Schicksalsschwere spielt, ich meine sie spielt sie gut, aber es ist von der Regisseurin Anna Justice, die mit Pam Katz auch das Buch geschrieben hat, gewollt sentimentales Theater oder Filming; was halt mehr die Achtung, die Verehrung für den eigenen Stoff signalisiert als dessen analytische Durchforstung und Durchdringung.

Durch die Entscheidung für die Sentimentalität geht viel Spannung verloren, wird viel zu viel Gefühls-Pulver verschoßen. Oder dann gar die Vision in New York, dass der junge Tomasz plötzlich neben Hannah steht, das ist schon sehr dick aufgetragen. Kinogeschichten erzählen verlangt, meine ich, mehr als schöne Romane illustrieren. Kino sollte die Bilder genau so dosieren, dass der Zuschauer mit seiner eigenen Aktivät andocken kann. Stimmt diese Dosierung nicht, kommt immer das raus, was die Filme dann doch relativ schnell wieder in der Versenkung verschwinden lässt: konfliktfreie Nacherzählung, hier mit viel Gefühl aufgeschwämmt.

Dagmar Manzel, die Hannah von 1976, spielt gut das Geleide, aber dieses zu inszenieren hilft weder dem Film noch der Story. Betroffenheit spielen lassen, das ist immer ein nicht allzuweitsichtiges Rezept. So wird der Film eindimensional. Aneinandergereihte Bebilderung. Die junge Hannah, die gefällt mir besonders nicht. Kaum ist sie aus dem KZ und haben die beiden Flüchtlinge den zwei deutschen Schnepfen im Niemandsland an einem Strand den schicken Mercedes geklaut, da sitzen die beiden Flüchtlinge wohlgenährt und glücklich wie Hollywoodgrößen im deutschen Kabriolet. Das ist reiner Kitsch oder will willentlich die Realsituation der Flucht nicht evozieren. Oder will das Traumatische der vorhergehenden Ereignisse nicht wahr haben. Denn nach solchen Erlebnissen bleibt man doch lange vorsichtig, auch wenn man schon längst in Sicherheit ist. Und wie es in solchen Fällen auch meist geschieht, wenn die Geschichte nicht filmisch auf den Grundkonflikt hin aufgelöst ist, dann ergeben sich auch allfällige Konfliktsituationen eben nicht automatisch und wie von selbst, sondern sie müssen wie aus der Konserve kommen und sind dann meist zu laut gespielt, verlieren dadurch an Glaubwürdigkeit, zum Beispiel Mutter-Tochter-Geschrei wegen dem vermeintlichen Tod von Tomash. Oder auch in New York gibt’s einen viel zu lauten Krach zwischen den Eheleuten und mit der Tochter.

Durch die Art verschütteter Dramaturgie bekommt ein Film auch wieder etwas rein Privatistisches, das macht ihn nicht mal unsympathisch, im Gegenteil, aber das nimmt ihm von der Wucht und der Verbindlichkeit und dem Zwang, den das Thema, wenn es denn ernst genommen würde (und nicht nur aus emotionaler Betroffenheit) auf die Geschichte ausübte; so verpufft letztlich die ganze Mühe um eine ganz besondere Geschichte. Wenn die präzise Konfliktanalyse fehlt, die selbstverständlich die Nebenkonflikte miteinbeziehen muss, kommt es eben nicht zur fundamentaleren Auseinandersetzung mit allen Figuren; es wäre viel mehr Mühe für die Drehbuchautoren, was dann mit einem durchschnittlichen Filmbudget vermutlich nicht mehr adäquat abgegolten werden könnte.

Im Weltraum gibt es keine Gefühle

Der Film versucht aus der Sichtweise des Asperger-Syndroms dieses dem Zuschauer näher zu bringen; dadurch wirkt der Film unschuldig, naiv, fröhlich, kumpelhaft.

Denn der Asperger-Mensch wie er hier gezeichent wird, es ist Simon, der versteckt sich am liebsten in einem alten Heizkessel als einem Raumschiff und nach dessen Landung will er nicht mehr aussteigen, weil er Angst vor den Eltern hat, denn die waren seiner Meinung nach nicht gut zu ihm, da hilft es nichts, wenn der Vater ständig mehr Geld ins Rohr reinsteckt, das zum Kessel rausschaut.

Erst der Bruder Sam, der in Raumfahrtsenglisch sich mit ihm unterhält, erhält überhaupt eine Antwort von Simon, aber die ist, dass er hier in der Wohnung der Eltern nicht mehr aussteigen werde. Also mietet Sam eine eigene Wohnung, Simon wird mitsamt seinem Raumschiff dorthin verfrachtet und auch die Freundin von Sam, Frieda, zieht mit ein.

Asperger Syndrom, und das will der Film von Andreas Öhman uns vorstellen und näher bringen, heißt, dass Simon in rein mathematisch physikalischen Strukturen denkt. Verabredungen gelten bei ihm sekundengenau. Alles andere bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Der Asperger tut sich sehr schwer mit Veränderungen – gut, da kann jeder von uns den kleinen Asperger in sich entdecken. Und wie Frieda das unerträglich wird und sie auszieht, bringt das das austarierte Dreier-Gleichgewicht in der brüderlichen WG aus der Balance. Nun macht sich Simon auf den Weg mit einem ganz genauen Fragenkatalog, den er nach den Vorlieben seines Bruders zusammengestellt hat, eine Frau zu finden, die zu ihm passt. Das funktoniert nach einigen Rückschlägen auch und seinen Bruder Sam muss er mit Gewalt (Entführung in einem Sack) zu seinem Glück zwingen. So ist denn das Gleichgewicht in der WG wieder hergestellt und wir haben auf humorvolle und unterhaltsame Weise einiges über dieses Syndrom erfahren.

Bullhead

Belgisch-flämisch-wallonische Genremalerei. Portrait eines Mannes, dem in der Jugend die Testikeln von einem behinderten älteren Buben zertrümmert worden sind. Der Film entwickelt eine Atomosphäre als stünde er unter der Dunst- oder Käseglocke dieser zerstörten männlichen Geschlechtsmerkmale. Mit einem Protagonisten, Jacky heißt er, der sein Unglück („Ich habe nicht, was in meiner Natur liegen sollte“) ständig wie eine Monstranz vor sich herträgt statt es kompensierend zu nutzen. Der Gedanke des Verdrängens findet zwar Eingang bereits in die ersten geschriebenen Texte, die noch vor dem Titel kommen, fast dichterisch geht es da um „Dinge, die still werden lassen“, die eingefroren werden, tief begraben. Es geht um den Vorfall, der von der Familie des Täters als Unfall dargestellt wird. Später sieht man Bruno, den Täter, in einer Anstalt dümpeln.

Der Film fängt dezidiert so an, dass er eine Atmosphäre schaffen will um dieses Unglück herum, das verdrängt wurde und Jahre später wieder hochkommt. Weil Jacky seinem Jugendfreund Diderik wieder begegnet (der ist inzwischen Polizeispitzel), der damals Zeuge des Vorfalles war, der einzige unbeteiligte Augenzeuge. Die Geschichte, die quasi als Drahtgestell für dieses Portrait dienen soll, spielt in den Sphären belgischer Viehzüchter und der ganzen Mafia, die illegale Hormonpräparate für schnelleres und fleischigeres Wachstum unter die Züchter bringt. Es gibt einen Mord an einem Kriminalbeamten (doch die Kriminaler tragen nachher keine Trauer). Es geht um Einschusslöcher in einem BMW, die vertuscht werden müssen, um Reifen, die Garagisten zurückhaben möchten, damit sie nicht in Verdacht geraten.

Es spielt noch eine Jugendfreundin eine Rolle, die jetzt in einer Parfümerie arbeitet und Jacky ausgiebig über Deos und Parfüms berät. Oder es wird ein Angebot an Hormonprodukten erläutert. Es werden ein Kaiserschnitt und die Geburt eines Kalbes gezeigt.

Der Film gibt von Anfang an klar zu verstehen, dass es ihm ernst ist, dass er Stimmung erzeugen will. Nach dem einleitenden Text fährt ein Jeep über Land, nähert sich der Kamera, aber es gibt kein Fahrgeräusch, nur der Wind bläst. Das macht geheimnisvoll. Oder die gelegentlichen Tempoverlangsamungen durch die Kamera. Diese schaffen Bedeutung. Wir haben es hier mit einem bedeutungsvollen Thema zu tun. Allerdings ein ziemliches Randthema, meine ich, Männer ohne Eier, natürlich tritt an einer Stelle ein Verhandlungspartner von Jacky ins Fettnäpfchen, indem er ohne irgendwas zu wissen, ihn als einen Mann ohne Eier beschimpft. Zur Demonstranz-Atmosphäre trägt auch die oft sehr feierliche Streichermusik beim. Stichwort am Anfang: gearscht, gearscht bist Du immer.

Die Frage ist allerdings, wer will einen Typen, der immer gearscht ist kennenlernen, wenn er das auch noch so demonstativ spielt und die Dramaturgie keine raffinierten, wenn auch vielleicht riskanten Kniffe anwendet, zum Beispiel, dass dieses Defizit, dieses Problem, ihn ständig zu neuen Beweisen von männlicher Selbstbehauptung zwingen würde, so dass es für einen Außenstehenden völlig überraschend, schier unfassbar wäre, zu erfahren, was ihm widerfahren ist, mit welchem Defizit er leben muss. Jacky aber ergibt sich eher passiv in sein Schicksal, zieht die Verarschung förmlich an. Ein unglücklicher Mensch, der das Unglück anzieht. Nur, wer will schon zwei Stunden, so lange dauert der Film, mit einem unglücklichen Menschen verbringen. Was der Film wirklich schaftt, das ist diese schuldbewusste Atmosphäre herzustellen. Ein Mensch mit Defiziten, der fühlt sich oft schuldbewusst. Und das transportiert Michael R. Roskam, Regisseur und Autor des Filmes, hundert Pro.

Der Versuch der Defizitkompensation kommt durchaus vor. Mit Muskelaufbau, Testosteron und mit dem Parfüm geht Jacky auch in die Disco. Aber wie er endlich mit der Drogeriewarenverkäuferin, die ihm das Parfüm verkauft hat, anbandeln kann, da schleppt ein anderer sie ab. Dem geht es nicht gut. Der lag bald darauf schon im Koma. Er ist fast wie ein Tier, dieser Jacky. Die beiden flämischen/oder wallonischen Garagisten, wegen denen er in die Mordsgeschichte hineingezogen werden soll, da geht’s ihm güllennass eini. Und einen Ansatz zu Schwulitäten gibts mit einem der Kommissare.

Am Anfang auch die Atmosphäre mit der niedrig gestellten Kamera im fast leeren Stall.
Warum mit der Titel „Genremalerei“ eingefallen ist? Weil die Figuren, es sind vor allem Mannsbilder, generell sehr dumpf gezeichnet sind, so wie auf flämischen Wirtshausbildern des 16. oder 17. Jahrhunderts, Frans Hals.

Jacky geht schwer wie ein Bulle. Auch das vielleicht ein kleines Denkproblem, er müsse den Stier spielen. Das macht er schon gut. Nur der Spannung der Geschichte hilft es wenig.
Atmsphäre entsteht auch dadurch, dass offenbar die Hoden, die Jacky fehlen, praktisch alle Farben aus dem Film absorbiert haben, wie so ein Colorauswaschtuch.
So wie der Jacky hier gespielt wird, macht er gelegentlich einen leicht behinderten Eindruck.
Ein flämisch-wallonisches Sittengemälde, das mir suggeriert, die ganzen Landsleute des Regisseurs hätten keine Eier. Eine ziemlich subtile wie gleichzeitig brutale Kritik.
Kleine Szene vor der Disco am Eingang, er muss ein Hemd tragen, das scheint auch eher eine private Reminiszenz des Regisseurs denn irgendwas, was die Geschichte vorwärts bringt.
Auch zur Atmosphäre: alle Szenen im haargenau gleichen Rhyhtmus.
Portrait eines Tiers.
Kurz: dem Konflikt fehlen die dramaturgischen Eier.

Als der Weihnachtsmann vom Himmel fiel

Die Kindergeschichten von Cornelia Funke verkaufen sich millionenfach. Da muss was dran sein. Obwohl mir diese Geschichte hier eher wie ein lustiger Modeartikel vorkommt, für den sich wahrscheinlich in einigen Jahren kein Mensch und kein Kind mehr interessieren wird, weil dann ein neuer Autor, eine neue Autorin mit lustigen, nicht allzu tiefen in den Zeitgeschmack passenden Geschichten für Kinder den Markt erobert haben wird.

Der Weihnachtsmann, der in einem alten Bauwagen wohnt und den ein Elch von der Weihnachtswelt in die richtige Welt zieht, der hat einen bösen Gegner, der ihn zur Eissäule erstarren lassen will.  Also bittschön, im alten Testament gibt’s eine Geschichte, wo ein Mensch Gefahr läuft, zur Salzsäule zu erstarren – dort allerdings mit ethischer Begründung. Das dürfte der Unterschied sein zu modischen Geschichten, die sich solcher Bilder frisch und frei bedienen, ohne gleich einen tieferen Sinn damit erzeugen zu wollen.

Waldemar Wichteltod, den spielt der Volker Lechtenbrink mit der tiefen Stimme und den haben sie auf ganz böse geschminkt, der will jedenfall alle Weihnachtsmänner zu Eiszapfen erstarren lassen. Nur einer ist ihm noch übrig geblieben. Das ist der aus unserem Film. Und hier wird erzählt, wie und wieso ihm das nicht gelingen wird. Unser Weihnachtsmann konnte also entkommen und fliegt gerade am Himmel; da bleibt Wichteltod als ein letzter Versuch, mit Sturm und Gewitter ihn zum Abstürzen zu bringen.

Der Bauwagen mit dem letzten Weihnachtsmann steht also plötzlich in der kleinen Stadt in der der Film nun spielen wird. In dieser Stadt ist gerade eine Kleinfamilie aus Vater, der seinen Bankjob verloren hat, Mutter, die eine kleine Confiserie eröffnet und Sohn Ben neu hinzugezogen. Ben sieht nachts den Weihnachtwagen abstürzen, aber von seinem Fenster aus beobachtet er auch Charlotte im Haus gegenüber. Mit der wird er zuerst zusammenprallen. Dann aber werden sie gemeinsam versuchen, den Weihnachtsmann zu schützen vor dem ihn verfolgenden Wichteltod und seinen grauen Männern, die in der Weihnachtswelt Nussknacker sind (animiert) und vielleicht inspiriert von den grauen Männern der Zeit, wie sie in Momo von Michael Ende vorkommen.

Das hört sich vielleicht ein bisschen abstrus an. Ist es wohl auch. Darf es aber auch sein. Das sind eben Weihnachtszeit-Mode-Geschichten. Für wer noch an den Weihnachtsmann glaubt. Weihnachtsmänner sind sowieso immer mehr in. Sie zieren in der Weihnachtszeit immer häufiger Hausfassaden und Balkone. Christentum hin oder her. Die Kirchen leeren sich, die Hausfassaden bevölkern sich stattdessen mit Weihnachtsmännern. So geht es auch im Weihnachtsfilm zu. Hier steht der Weihnachtsmann für den, der Wunder vollbringen und die Kinder beschenken kann.

Das Drehbuch zum Film haben Uschi Reich, die als erfolgreiche Kinderfilmproduzentin zu charakterisieren ein Muss ist, Benjamin Biehn und Robin Getrost nach dem Buch von Cornelia Funke geschrieben, zweckmässig, pragmatisch und sie kommen ziemlich ohne dumme Fernsehdialoge, die alles erklären aus, ja es gibt sogar Szenen mit richtigen Auseinandersetzungen, eine ernsthafte Diskussion über die Existenz des Weihnachtsmannes beispielsweise, immerhin das wird reflektiert. Aber auch keine an den Haaren herbeigezogenen Witze und Gags. Oliver Dieckmann hat das alles konzentriert auf die Geschichte und ihren Fortgang hin inszeniert. Dass den Figuren in solchen Filmen immer etwas Masken- und Klischeehaftes anhaftet, dürfte zum einen in der Hollywoodaffinität oder –sehnsucht der Bavaria-Ateliers begründet liegen, aber auch in der Art wie solche Kindergeschichten nun mal erzählt werden und aus Erfahrung zu funktionieren scheinen.

Die große Passion

Wenn einer sich mit einem Film ins Kino traut, muss er damit rechnen, dass Kino mit Kino verglichen wird. Wenn einer sich mit einer Dokumentation ins Kino traut, also für sein Werk Kinotauglichkeit beansprucht, muss er damit rechnen, dass man mit anderen Kino-Dokumentationen vergleicht. Dieser Film hier nennt sich ganz ungeniert „Die große Passion“ und nicht etwa „Making of Passionsfestspiele of Oberammergau“, was dem hier Gebotenen allerdings deutlich näher käme und eine adäquate Erwartungshaltung aufbauen würde, die dann nicht zu schnell in Enttäuschung kippte.

Es geht um die Dokumentation eines kulturellen Ereignisses, eines weltberühmten noch dazu. Zum Vergleich ziehe ich heran „La Danse – Das Ballett der Pariser Oper“ von Frederick Wiseman. Er hat mit relativ bescheidenem Drehaufwand, ein sehr präzises Bild dieser aufwändigen und weltberühmten Institution gezeichnet, man hat nicht nur von der Architektur was kapiert, sondern auch von den Probenabläufen, dem Werden von Choreographien und nicht weniger von der Organisation hinter der Bühne, sei es der Vertretung der Tänzerinnen, der Regelung ihrer Altersversorgung oder der Beziehungspflege zu den Sponsoren. Es scheint, dass Wiseman sehr viel Vorarbeit im Kopf und in der Recherche geleistet hat und dadurch mit verhältnismäßig bescheidenem Drehaufwand zu Ergebnissen gelangte, die Kinospannung zu erzeugen vermögen und Zuschauer anziehen.

Jörg Adolph scheint anders vorgegangen zu sein. Sein Prinzip scheint gewesen zu sein, hingehen, Kamera drauf halten und dann schauen, wie aus dem Material ein Film zusammenzuschneiden sei. Auch das kann funktionieren. Seine primäre Qualität also war Bildersammlerfleiss. Sein Objekt: Herstellung der Oberammergauer Passionsspiele. Er war an 200 Drehtagen vor Ort und hat 300 Stunden Material abgedreht. Das dürfte beim Schneiden und Auswählen zur Qual der Wahl geführt haben und ihn vielleicht auch etwas den Überblick verlieren lassen haben.

Herausgekommen ist jedenfalls aus meiner Sicht ein sehr langer Film, der allenfalls den Titel, wie schon erwähnt, „Making of Passionsspiele Oberammergau“ oder vielleicht „Team-Film der Passionsspiele“ für die Beteiligten, Interessierte und zugewandte Orte, verdiente, jedoch garantiert nicht den großspurigen Titel „Die große Passion“.

Herausgekommen ist ein Aneinanderreihfilm von Schnipseln von Proben, Besprechungen, Aufführungsausschnitten, diese kitschigen lebenden Bilder, diese von Darstellern gestellten Tableaus immer wieder zwischendrin, der Rest mehr oder weniger chronologisch, obwohl dann nach dem Ende der Aufführung wieder eine Probe reingeschnitten wird und dann noch ein Kommentar. Der Kommentar ist von Christian Stückl, dem Regisseur der Spiele und der Hauptdokumenationsfigur, weil er halt gut und leicht reden und sich ins Szene setzen kann. Mit seinem Schlusskommentar soll wohl versucht werden, dem Ganzen einen kritischen Anstrich zu verleihen. Stückl meint, dass Jesus gewiss nicht von einer Kirche wie der katholischen geträumt hätte und sicher das nicht gewollt hätte. Das erscheint mir doch ganz schön scheinheilig oder alibihaft zu sein, denn ohne Kirche gäbe es die ganze (große!) Tradition der bildnerischen Darstellung des Kreuzweges nicht, die die Basis dieser Spiele ist. Dieser rasch noch hinzugefügte Kommentar reicht also nicht aus, dem Film den Stellenwert des Kritischen zu geben oder einer pointierten Haltung zum Stoff erkennen zu lassen, ihn von der Apostrophierung als PR-hafte, wohlgesinnte, freundschaftliche Hofberichterstattung oder eben des familiären Teamfilmes zu befreien.

Die Filmer hatten also viele Reisen nach Oberammergau unternommen, haben auch mal eine Dorfansicht und Impressionen von hinter der Bühne, aus der Kantine, Garderobe, Dusche, Schneiderei, Pressekonferenzen mitgenommen, haben Talkshowausschnitte aus Amerika eingefügt, eine Schauspielerreise nach Israel begleitet, sind auf Tuchkaufreise nach Indien mitgefahren, zum Papst – die Dokumentaristen haben wenigstens schöne Reisen gehabt, die dem Film und dem unverbandelten Zuschauer allerdings nicht allzuviel an Gegenwert bringen.

Wie Jörg Adolph insgesamt der geistig strukturierende Neugierfaden zu fehlen scheint. Keine Differenzierung zwischen Äusserlichkeit und Inhaltlichkeiten, da gibt’s zwar eine Diskussion mit Geistlichen, katholischen und jüdischen. Blitzt sozusagen kurz auf, reicht aber nicht für einen das Zuschauerinteresse leitenden geistigen Faden.

Der einzige „inhaltliche“ Faden, der allerdings mehr Gegenstand als Faden ist, ist das Portrait des großen Zampano der Festspiele: Christian Stückl, den man sich nach diesem Film sehr gut als „Theatermacher“ von Thomas Bernhard vorstellen könnte. Man könnte den Film auch ohne große Fehlermarge „die Soloshow des Oberammergauers Christian Stückl“ nennen, denn er redet weitaus am meisten und ist immer lustig dabei zuzusehen und außerdem ist er ein gebürtiger Oberammergauer, was Voraussetzung ist, dort mitzumachen. Er ist sozusagen der wahre Jesus von Oberammergau. Aber sowas hinterfrägt dieser Film nicht. Er präsentiert es als Wahrheit. Das reicht allerdings bei weitem nicht aus, Kinospannung zu erzeugen; ist quasi nur der ständig erneute Beleg für diese Behauptung in immer anderen und meist doch sehr ähnlichen Bildern. Der Zampano und die Darsteller, der Zampano und die Politik der Gemeinde, der Zampano und die Medien, der Zampano und die Arbeit am Buch und mit dem Stab, der Zampano und die Komparsen, der Zampano und das (verbotene) Rauchen.

Faktisch also ein Film über den Theatermacher Christian Stückl; was aber dem Filmemacher offenbar gar nicht richtig bewusst war, weil es nicht seine Absicht war – sonst hätte er den Film anders betiteln müssen; diese Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt verweist meiner Meinung nach das ganze Produkt dann doch eher in die Schublade „laienhafte Bemühung“.

Der Fall Chodorkowski

Der Fall Chodorkowski oder eine Materialiensammlung zu Aufstieg und Fall des russischen Oligarchen Michail Chodorkowski. Materialiensammlung als eine spannende Reportage, vor allem anfangs sehr kinohaft, im Verlauf der Geschichte dann allerdings sich mehr der Fernseh-Eiligkeit annähernd in der Häufigkeit der Schnitte.

Das erste Bild ist ein besonders komponiertes, was auch imponiert, erst ist nur ein ganz schmaler Schlitz am oberen Bildrand zu sehen. Die Kamera dreht sich gegen den Uhrzeigersinn, sie ist an einem festen Standort und der Schlitz weitet sich wie das Törchen zu einer Gefängniszelle, durch welches das Essen gereicht wird, nach unten, streift eine sibirische Landschaft mit Oelpumpen, dreht sich dann immer mehr einer erhöht gelegenen russischen Kirche zu, senkt sich aber gleich ab und kommt vor drei Jugendlichen, die unten an einer improvisierten Treppe zur Kirche Aufstellung genommen haben, zum Stillstand. Diese werden gefragt, ob sie wissen, wer Chodorkowski sei. Die Frau antwortet mit Nein, einer der Jungen meint, das sei einer der Russland viel Geld gestohlen habe. Das trifft allerdings nicht den Kern des Filmes. Insofern ist der Einstieg vielleicht etwas oberflächlich – aber umso schöner. Den Kern der Sache dürfte später Bundeskanzler Schröder (in einer Archivaufnahme) getroffen haben mit der Bemerkung: Männersache. Doch davon später mehr.

Was man dem Film ansieht, dass Cyril Tuschi sehr lange daran gearbeitet hat, sehr vielfältiges Material gefunden und selbst gedreht hat, weit über das Maß einer üblichen Fernsehreportage hinaus und angesichts der Brisanz des Themas in Russland, denn die Auseinandersetzung Putin – Chodorkowski dauert an, auch recht couragiert. Die beiden Kampfhähne befinden sich in Warteposition, Putin als Premier, während Medjedew Präsident ist und Chodorkowski immer noch im Gefängnis sitzt und schon weitere Anklagen auf ihn warten. Angesichts der Brisanz der Materie, einer nicht beendeten „Männersache“ also, so ist jedenfalls mein Eindruck, dürfte Cyril Tuschi sehr viel erreicht haben, ja sogar ein Interview mit Chodorkowski selbst anlässlich eines Termines vor Gericht und durch eine Glaswand.

Tuschi präsentiert sein Material chronologisch. Geht zurück auf die Ausbildungszeit von Mischa, wie Chodorkowski von Vertrauten und von seiner Mutter genannt wird. Er bringt Einblicke in den Übergang vom Kommunismus zu den Privatisierungen und wie es möglich war, dass Leute, die ganz ohne Geld angefangen haben, in so kurzer Zeit zu Milliardären geworden sind. Das erklärt überzeugend ein amerikanischer Banker, dass denen Yukos praktisch geschenkt worden sei für 300 Millionen, obwohl die Firma schon kurz darauf mit 6 Milliarden zu Buche schlug, weil nämlich sonst ausländische Investoren zugeschlagen hätten und dass das kein Land wolle, es aber in Russland niemanden gab, der soviel Geld hätte hinblättern können.

Viele Originalaufnahmen ergeben ein differenziertes Bild von Mischa. Wie er sehr ehrgeizig gewesen ist, hellwach und hochintelligent, darum wohl bald der reichste Mann der Welt unter 40 Jahren geworden ist, der auch Termine mit dem amerikanischen Präsidenten hatte, aber ab da wurde es kritisch, wie er Kontakt zur amerikanischen Oelindustrie aufgenommen hat. Es gibt Leute, die ihn als arrogant bezeichnen. Obwohl er immer darauf geschaut hat, bescheidener zu leben, als er es sich hätte leisten können. So hielten es auch die anderen Manager von Yukos.

Man könnte einen anderen Zugang zu diesem Material finden: man könnte sagen, es ist der Stoff zu einem grandiosen Thriller. In dieser Hinsicht bekommt das Schröder-Wort Gewicht: Männersache. Ein reiner Machtkampf, ein Hahnenkampf zweier Männer, der zwischen Putin und Chodorkowski, den Eindruck suggeriert der Film und widerlegt ihn keineswegs, versucht es gar nicht erst. Es wären viele Elemente für diesen Thriller zu finden.

Der Kampf dieser beiden. Die Warnungen, die Putin ausstößt. Den ersten Manager, den er verhaften lässt. Dazu gibt’s im Film ein schönes Statement: willst Du ein Rudel Wölfe verjagen, reicht es, wenn Du den Leitwolf tötest. Michail wusste also, dass er der nächste wäre. Und trotzdem ist er nach einer Amerikareise wieder zurückgekehrt und wurde prompt verhaftet. Heute meint er dazu, dass er das in vollem Bewusstsein in Kauf genommen habe, dass er aber wohl naiv gewesen sei, was das Gerichtswesen in Russland betreffe. Und zitiert den Weisen, der es gar nicht erst zu einer solchen Situation kommen lässt. Putin konnte es nicht ertragen, dass Michail die politische Opposition unterstützte.

Ein Game zwischen zwei Männern. Politische Macht gegen Geldmacht. Die Geldmacht in immer größerem Ehrgeiz zum Aufbau eines Imperiums und glaubend, sie könne sich alles erlauben. Die politische Macht eitel bis dort hinaus und empfindlich, hochempfindlich und sicher war es nicht klug, beim Jahrestreffen mit den Miliardären, das der russische Präsident abhielt, ihm die Korruption direkt vorzuwerfen, die zu beseitigen sei. Man ist auch in höchsten Kreisen nachtragend und extrem wehleidig.

Es ist auch ein Kampf menschenrechtsverachtender Diktatur (Putin) gegen den Glauben an die Meinungsfreiheit der Demokratie (Chodorkowski), so wird das hier natürlich nicht genannt. Joschka Fischer weist darauf hin, dass die Dinge im politischen Geschäft anders laufen und ganz sicher nicht nach den Idealen von Menschenrechten und dem kapitalistischen Idealisten Chodorkowski, der mit einer Stiftung Bildung unterstützt und der die Welt verändern will, der Transparenz in die Bücher geschaffen hat (darum konnte er dann, wies brenzlig wurde, auch nicht mit 100 Millionen Schmiergeld sich aus der Affäre ziehen, das wäre damit nachweisbar geworden).

Besonders die frühen Bilder zeigen Chodorwoski mit einer unglaublichen Aura, die ihm tiefleuchtende Schönheit verleiht. Er strahlt dadurch auch Macht aus. Es gebe drei Arten von Unterstützern für Mischa, das erste seien vor allem Rentner aus Russland, das zweite die Menschenrechtsaktivisten und das dritte Menschen, die ihn einfach schön finden. Sein Sohn lebt in Boston. Die Mutter in einem schönen Haus in Russland. Aber sie bwoht nur noch zwei, drei Zimmer.

Was mich richtig stört, das ist die Kommentarsprecherstimme, die hört sich nach routinierter Fernsehtagesschau an, reduziert das Kino aufs Fernsehformat.
Chodorkowskis brutale Gefangennahme aus seinem Privatjet heraus wird animiert gezeichnet.
Eine weitere Animation, wie er im Geld schwimmt, und wie er wieder auftaucht, ist der Schnauz weg, der amerikanische Imageberater wars. Die hatten von Banking keine Ahnung, wie sie die erste private Bank Russlands gründeten. Aber er hatte eben auch ein Bewusstsein seiner eigenen Unerfahrenheit und war dadurch lernbereit und lernte auch sehr schnell.
Die russische Elite sei noch nicht bereit gewesen „for this attitude“.
Der Sohn findet den Vater autoritär. Also auch ein Vatersohnkonflikt gehört am Rande zu diesem Thriller.

Seine erste Frau tritt auch auf im Film. Die waren ein Paar im Komsomol, der Jugendorganistion der Partei; Liebe schneller als die Blicke es sagen können.
Joschka Fischer mit Heftpflaster auf der linken Daumenkuppe. Wo hat er sich geschnitten, doch nicht etwa bei den Menschenrechten.
Stalin-Zitat: Wenn der Feind nicht aufgibt, so töte ihn.
Die Villen der geflohenen Oligarchen in Moskau (etwa sieben Oligarchen sind sofort nach Mischas Verhaftung ausgereist) stehen leer in einer umzäunten Siedlung, werden aber auf Stand-by gehalten.
Besitz und Freiheit. Das schneidet Mischa im Gefängnis an, dass er sich erst hier frei fühle, vorher habe er sich immer um den Besitz zu kümmern gehabt.
Mischa denkt immer noch daran to win the end-game.
Er hat im Gefängnis jedenfalls keine Zeit für Meditation, er hat genügend mit den Prozessen zu tun und auch andere Verpflichtungen.
Musik von Avo Pärt. Passt.

Tom Sawyer

Bei Mark Twain, auf dessen Geschichte der Film beruht, kann schon nichts schief gehen, werden sich die Produzenten gedacht haben. Die Kinobearbeitung von Sascha Arango ist durchaus dazu angetan, eine Kinospannung zu erzeugen, sie behält konsequent die Erzählebene von Tom Sawyer und seinem Freund Huckleberry Finn bei. Die Dialoge sind, wenn auch nicht das Non-Plus-Ultra an Sprache fürs Kino, so doch handlungsförderlich. Das dürfte das Solideste an der Geschichte sein, sicher auch die Kostüme und die Ausstattung und die Mississippilandschaft, die Computertechnik an der Havel möglich machte.

Die Geschichte braucht hier nicht referiert zu werden; die dürfte sattsam bekannt sein. Aber dann fängt es vom Kinostandpunkt aus, also vom Anspruch her, werthaltiges Kino zu sehen, doch arg zu hapern an. Die Regie übernahm Frau Hermine Hundgeburth. Sie erledigte ihre Arbeit vom Produzentenstandpunkt aus bestimmt ausgezeichnet, indem sie den Drehplan eingehalten haben dürfte. Leider scheint sie kein Interesse, keine Zeit oder keine Gefühl für Sprachregie zu haben. Oft sprechen die Schauspieler zu laut, zu aufgesetzt; nur ein Beispiel: wenn Tom und Huck sich auf dem Dachboden der Hütte des Indianer Joe verstecken, und sie wissen, dass er ihnen ans Leder will und er ist hier im Film ganz besonders bös dargestellt, aber dazu später, und wie er dann mit seinem Kumpel die Hütte verlassen hat, so lehnen die beiden Buben sich entspannt an die Wand, schnaufen aus und unterhalten sich dann in Normallautstärke, als sei nichts gewesen und als könne der Joe nicht jeden Moment wieder zurückkehren.

Da ist aber noch ein anderes Problem: Mississippi ist tiefer Süden in den USA, da spricht garantiert kein Mensch irgend ein Hochamerikanisch, wie die hier und das ist besonders bei den Buben ärgerlich, ein superglattes, aalglattes TV-Hochdeutsch sprechen; das tut den Figuren gewaltigen Abbruch. Frau Hundegburth scheint aber auch kein Interesse oder keine Zeit oder kein Feeling für die Arbeit an den Figuren der Schauspieler zu haben. Die Buben grinsen viel zu oft, als hätten sie gerade in einer TV-Show was gewonnen; Frau Hundegburth scheint sich überhaupt nicht für Menschenbeobachtung und daraus zu erzielende Impulse für die Figuren und damit den Wert eines Filmes zu interessieren.

Wenn zum Beispiel Heike Makatsch, die auch überrissen böse gezeichnete Tante Polly spielt, in der Kirche weint (das ist da, wo sie glauben, Tom sei gestorben), dann kommt das so übertrieben und gekünstelt rüber, so unglaubwürdig; genauso wie die Figur des Indianer Joe, was krampft sich hier Benno Fürmann ab um diesen unnüanciert bös, bös, bös zu spielen. Mark Twain hat die Figur garantiet nicht so entworfen. Natürlich steht nirgendwo geschrieben, der Regisseur oder die Regisseurin hätte den Schauspielern zu glaubwürdigen Figuren zu verhelfen. Aber, da kommen wir zu einem weiteren Punkt: dem Cast. Der scheint hier in praktisch allen Positionen ein Missgriff zu sein. Angefangen bei den beiden Buben. Man sieht ihnen einfach die guten deutschen Verhältnisse an, aus denen sie stammen (könnte man ja machen, aber dann müsste das im Rahmen deutlich werden, dass Wohlstandsbuben arme Mississippi-Kinder darzustellen versuchen). Vielleicht hätte man da in Asyllagern suchen müssen, in Outsiderverhältnissen. Buben, die andere Dinge erleben, als ein Kid, der heutzutage in geordneten deutschen Verhältnissen mit dem Auto von Spieltermin zu Schultermin zu Sporttermin zu Klaviertermin zu Sprechertermin zu Drehtermin gefahren wird. Warum spielt Peter Lohmeyer, den man doch sonst als Protagonist kennt, die Minirolle des Richters Thatcher und fühlt sich außerdem noch sichtbar unwohl oder gar unsicher darin? Vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass eine solche Charge oft schwieriger zu spielen ist als ein Hauptpart. Was ist der Sheriff für eine merkwürdig unterdrückte Figur? Einzig der Sargschreiner Muff Potter, gespielt von Joachim Krol, zeigt meines Erachtens Qualitäten, die Empathie ermöglichen; spielt die Rolle, als sei es die Rolle seines Lebens. Im Kino sollte man diesen Anspruch von allen Darstellern erwarten (das machen uns doch gerade die so oft gepriesenen Amerikaner immer wieder vor).

Auch der Lehrer ist ein merkwürdig krümelige Figur, nicht Fisch nicht Fleisch, nicht Wissenschaftler, nicht Pädagoge. Er tut so, als ob sein Job und seine Rolle schwierig seien. Nicht zufriedenstellend.

Insgesamt ein Produkt, das lediglich für den deutschen Markt gedacht sein kann. Wenn man an die Südstaaten denkt, so fehlt hier vollkommen das darstellerische Temperament. Auch so eine Fernsehkitschszene, wie die Buben auf dem Floß sich umarmen. Generell: die Darsteller tun mir zu oft so als ob. Aber Tom und Huck haben doch ernsthafte Probleme zu bewältigen; das kommt für mich auch durch das Spiel der Erwachsenen überhaupt nicht raus. Wir machen hier eine Sause. Wir spielen hier Film. Sommerurlaub für die Kids. Das ist so kein Wonnepfropfenkino. Aber für den inländischen Markt offenbar brauchbar. Das dürfte am meisten dem Buch zu verdanken sein, dass wenigstens das funktionieren könnte. Man könnte auch sagen: ein Mark Twain lässt sich nicht so leicht umbringen.
Im übrigen ist der Film mit fast zwei Stunden deutlich zu lang.

Submarine

Wer hat nicht schon von der eigenen Beerdigung geträumt und sich vorgestellt, wie die Leute alle weinen und Kerzen anstecken und dass das womöglich in den Nachrichten kommt und dass die Nachwelt einen als einen wichtigen, vorbildlichen, unersetzlichen Erdenbürger und Zeitgenossen betrauert, dass das ganze Land um einen weint, wer kennt das nicht. Um sich dann noch zur Überraschung aller die eigene Auferstehung vorzustellen. Diese Fantasie malt sich unsere Hauptfigur, Oliver Tate, ein Heranwachsender in einem idyllischen Hafendorf in Wales, Great Britain, aus. Er lebt mit seinen Eltern, dem Vater, einem Meeresbiologen und der Mutter, die gerade mit dem Nachbarn, einem Esoteriker, anbandelt, in einer Einfamilienhausgebäulichkeit. Im Prolog zum Film, der die erwähnte Todesfantasie enthält, geht es des weiteren um die Konstitution des Individuums. Im Zimmer von Oliver, fallen vor allem ein Skelett und ein Fernrohr auf. Damit kann er bei den Nachbarn geistig „fensterln“.

Das erste Kapitel ist überschrieben mit: Jordana Bevan. Das ist ein ziemlich lausiges Mädchen an der Schule. An sich war Oliver in Zoe verliebt, eine dickliche junge Frau und Outsiderin. Die hatte er sogar einmal geküsst. Aber sie ist dann zum Opfer eines Mobbings geworden. Nachdem die Burschen inklusive Jordana sie in den Wald getrieben und ihr die Schultasche entrissen haben und sie beim Versuch, diese wieder zu fangen, rittlings in einen Tümpel gefallen ist, ab diesem Tag ward sie in der Schule nicht mehr gesehen.

Doch die jungen Burschen wollen die Mädels kennen lernen. Eine Freundin ist für das Image auf der Straße, für die sogenannten „Street Credits“ von hervorragender Bedeutung, so raisonniert zumindest unser Oliver. Er macht sich also ausgerechnet an Jordana ran, die sich erst sehr schnöselig benimmt und nach einigen Komplikationen schafft er es, schafft er „das erste Mal“. Die Mutter ist erst geschockt und will schon sagen, sie hätte ja gemeint, er sei …, aber das Wort kommt ihr doch nicht über die Lippen. Mit Jordana als Lebensabschnittspartnerin windet sich Oliver durch die Wirren des Coming of Age, mit einer atavistischen Liebe, die hinten und vorne keine Liebe ist. Man hat den Eindruck, auch das Mädchen macht das mit, um es kennen zu lernen. Doch die beiden haben keine gemeinsamen Interessen. Das zeigt sich, wie er ihr einen Packen Bücher zum Lesen geben will, Nietzsche und dergleichen. Dafür ist sie ein karger Boden. In der Schule gibt es nebst Froschschenkel-Experimenten noch eine Schwulenhatz auf ihn; aber Jordana hatte bei ihrem ersten Kuss Fotos geschossen. Die dienen unverhofft zum Beweis des Gegenteils. Es gibt sogar einen Besuch bei ihren spießigen Eltern. Doch ihre Mutter hat einen Gehirntumor.

Über die kurze heftige Liebes- und Brunftzeit mit Jordana drehten die beiden auch einen Super-8-Film, der in voller Länge eingespielt wird, wie sie nachts auf dem Rummelplatz sind, am Meer, wie sie Wunderkerzen abbrennen lassen, vorgespieltes Liebesglück pur.

Der Film dürfte Mitte der achziger Jahre spielen, denn die Eltern gehen immer donnerstags ins Kino, sie wollten an diesem einen Tag, an dem Oliver Jordana eingeladen hat, einen Rohmer schauen, waren dann aber im Crocodile Dundee. Die Phase mit Jordana ist in dem Moment zu Ende, in dem sie einen anderen nimmt, den mit dem sehr langen Hals. Oliver geht deswegen nicht zugrunde noch bringt er sich um. Jetzt kümmert er sich und das ist das zweite Kapitel, um „Graham Purvis“. Das ist der esoterische Nachbar – und diesem und dessen Frau guckt er in die Fenster. Er nennt sie die Ninas. Dieser Purvis wird sich im zweiten Kapitel von seiner Frau trennen. Ab hier verlässt die Story das übliche Coming-of-Age-Feld, denn Oliver spioniert jetzt seinen Eltern nach, spioniert sie aus; wenn sie nicht zuhause sind, wühlt er in ihren Dingen, er will etwas erfahren über ihr Leben, über ihre erwachsene Liebe und er weiß, dass es sieben Monate her ist, dass die beiden zum letzten Mal Sex gehabt haben. Außerdem hat er herausgefunden, dass dieser Purvis ein merkwüdiger falscher Heiliger ist, der Sessions über die Kraft des Lichtes und die seelische Freiheit abhält. Und Mutter geht plötzlich wieder zu seinen Vorträgen. Wobei zu sagen ist, dass sowohl Mutter als auch der Vater und auch dieser Purvis, sehr reduzierte Figuren sind, mit wenig Ambition zu Persönlichkeit und Individualität, eher wie leicht sterile Serienmodelle des Vater- und Muttertypes, aber in nicht-klischeehafter Besetzung.

Oliver interessiert sich also für die Praxis der Ehe der Eltern oder die vermeintliche Krise; er schreibt einen falschen Brief an die Mutter, unterschrieben mit Lloyd, dem Vornamen des Vaters, dass er doch wieder mit ihr schlafen wolle. Kurz, Oliver will, wenn er mit sich schon nicht zurecht kommt, obwohl er an einem Punkt auch die Erkenntnis hat, dass er sehr gut mit sich allein zurecht kommt, die Ehe der Eltern retten oder wiederbeleben.

Das dritte Kapitel ist überschrieben mit „Show-Down“. Unter anderem muss Oliver in der Schule einen dieser Kassiber vorlesen, die sich die Schüler – immer schön in Uniform – während des Unterrichts gerne zustecken; ausgerechnet der war ein Liebesgeständnis an Jordana. Gebasht werden für die Liebe.

Beim Rekapitulieren des Filmes fällt mir auf, dass das gar nicht so leicht geht. Mitten beim Schauen hatte ich den Eindruck, dass es ein rein privatistischer Film ist. Die Langsamkeit und Unaufgeregtheit der Erzählweise erinnerte mich mehr daran, wie ein Mensch, der Dinge, die er vielleicht schon vergessen hat, wieder versucht an den Tag zu bringen. Das geht nicht immer in der Reihenfolge und das geht auch nicht leicht. Der Eindruck entsteht, dass der Regisseur und Drehbuchtautor Richard Ayoade ein Originalvorbild, was in diesem Falle ein Buch von Joe Dunthorne ist, getreulich nacherzählen will. Und dass ihm mehr um Korrektheit als um einen eleganten Fluss von Geschichte geht. Dieses sehr Individuelle hat aber auch zur Folge, dass es nicht als prototypisch für den Begriff „Coming of Age“ stehen kann, wenn auch viele der Elemente enthalten sind.

Was mich beim Erinnern am meisten verwundert und auch weiter beschäftigt, ist die Parallele der Krisen der Pubertät des Kindes mit der Krise in der Ehe der Eltern. Das kommt zwar oft vor in solchen Filmen, dass die gerade in Scheidung sind, wird aber doch meist mehr informativ als eher zufällige Nebenerscheinung abgehandelt. Was mich hier fasziniert ist, dass dieser Film sozusagen der Verwicklung von Eherkrise der Eltern und Coming-of-Age-Krise der Jungen auf die Spur kommen will. Ein Gebiet, wo es meiner Meinung nach noch so einiges auszuloten gäbe.