Le Havre

Nehmen wir an, der Film wäre Literatur, dann würde sich vielleicht der Begriff der Schnurre anbieten, einer ungewöhnlichen, in Teil-Bereichen sogar leicht gruseligen Erzählung über eine Begebenheit, die der Erzähler mit List in den Äuglein von sich gibt, um seinen Zuschauern ein wohlig-kitzelndes Gefühl zu vermitteln.

Aki Kaurismäki entpuppt sich hier als Altmeister dieser Kunst. Ihn interssieren seine drei Hauptfiguren, Marcel Marx, der als Schuhputzer in Le Havre lebt und arbeitet, das ist schon sehr skurril, denn der Schauspieler, André Willms wirkt doch viel zu intellektuell für so einen Job, ferner ist da Arletty, seine kränkelnde Ehefrau und Jean-Pierre Darroussin als Zivilkommissar Monet, der sich um die Wirksamkeit seiner Schauspieler-Routine keine Sorgen zu machen braucht, schon gar nicht in so erstklassiger Umgebung.

Um seiner Verwunderung über die Lebensart, die Lebenseinstellung, die Lebensbewältigungsmechanismen und kleinen Listen dieser doch nicht allzu dummen, nicht allzu ungebildeten Mitteleuropäer Ausdruck zu verleihen und diese zu schildern, auch ihre menschlichen Anfälligkeiten oder Gewohnheiten, bedient sich Kaurismäki eines Katalysators.

Einschub: Marcel Marx und seine Frau leben in einem kleinen Häuschen, das in eine Häuserreihe in einer engen Gasse eingequetscht ist mit einem ordentlichen Zaun aus zugespitzten und anständig bemalten Holzlatten. In Le Havre. Die Gasse besteht ferner, das ist wirklich wie die Anordnung in einem Kindermärchen, aus einem Gemüseladen, einer Kneipe und einem bösen Nachbarn, auch der ist sehr dezidiert bleich geschminkt wie Mephisto und ist der Miesling, der von hinterm Vorgang alles beobachtet und seine Mitmenschen denunziert. Wie im guten, alten Märchen.

Um also Leben in so eine Gasse, die wie von der Weltgeschichte übersehen und vergessen scheint, zu bringen, muss eine neue Figur hinzukommen. Der Erzähler entscheidet sich schlau für Idrissa, einen schwarzen Containerflüchtling aus Afrika. Der wird die selbstzufriedene, mit sich selbst beschäftigte Idylle nun aufmischen.

Der Container mit Idrissa und einem guten Dutzend weiterer Flüchtlinge wurde irrtümlich in Le Havre statt in England angelandet. Ein Kinderstimme macht den Hafenwächter auf die illegale menschliche Fracht aufmerksam. Mit martialischen Vorkehrungen und Maschinengewehren im Anschlag öffnet die Polizei den Container. Der Erzähler schildert uns nun das Bild das sich bietet nicht realistisch. Das wäre viel zu unangenehm für einen Winterabend am Kamin und für die Geruchsnerven. Das wäre direkt abstossend, wenn man sich realistisch ausmalen würe, wie es in so einem Container stinken muss und wie elend die Menschen sein müssen nach Tagen in dieser versiegelten Box. Es verstiesse gegen den Geist der Schnurre, hier Realismus zu wollen.

Unsere Protagonisten sind ja auch keine Europäer, die die Welt verändern wollen. Sie wollen ihrem ungelenken Gang höchstens ein Schnippchen schlagen, indem sie je nach Fall auch mal das Gesetz unterwandern und wie hier einem Illegalen zur Flucht nach England verhelfen. Da ist es wieder, das gute Märchen. Denn die für die Flucht und die Beschaffung der für den illegalen Transport über den Ärmelkanal nach England nötigen 3000 Euro, die kommen schnell zusammen dank einem anderen schnell organisierten Märchen: das kurzfristig aus dem Boden gestampfte Come-Back-Konzert des Sängers Robert; Marcel Marx kommt kaum nach mit dem Stempeln und Abreißen der Karten.

Es darf aber auch gekichert werden bei dieser Erzählung. Über einen Schlenker des Gemüsehändlers zum Beispiel mit dem im Gemüsekarren versteckten und von der Polizei gesuchten Flüchtling Idrissa. Denn der sehr menschliche Kommissar Monet hatte Marx kurz vor der anstehenden Razzia noch gewarnt. Auch Kommissar Monet ist ein heimlicher Spitzbube und agiert gegen das Gesetz, das er doch verteidigen soll, wenn er der Meinung ist, das Gesetz richte sich gegen die Humanität, die es doch vorgeblich schützen will. Das Gesetz aushebeln zu dessen eigenen Gunsten. Kurz vor dem Ende der Gasse und bevor es um die Kurve geht mit der Blumenkohl-Flüchtlingskarre, macht der Gemüsehändler also noch einen Schlenker in seinem Gang, den Bühnenkomiker gerne und gerne auch als einen Tic zu viel ihrem Publikum servieren, kurz vorm Abgang, erstens weil keiner gerne abgeht und zweitens, weil ein Abgang so und ohne Mätzchen einfach viel zu ernst und langweilig ist, erst recht in einer Schnurre.

Und die drei Klatschdamen der Gasse jammern und klagen, wenn sie sehen, wie der Blumenkohl, der den Flüchtling verdeckt, an ihnen vorbeigefahren wird, dass sie den doch für ihre Ehemänner bräuchten. Das sind leicht übertrieben gespielte, respektive erzählte Momente, die eben zur Erhöhung der Story und nicht irgend einer sozialkritischen Wahrheit dienen. Genau so wenn Marcel, dessen Frau, je mehr er in das Räuber- und Gendarmspiel, in das Versteckspiel des Schwarzen vor den Behörden involviert wird, desto kränker wird und er für sie ihrem Wunsch gemäss, der mit dem Tod der bald Sterbenden kam, das gelbe Kleid in ein prosaisches Packpapier einwickelt, so tut er das für meine Begriffe doch einen Deut zu ungeschickt, so bescheuert kann er nicht sein.

Übrigens, wie die Fluchtaktion glücklich zu Ende gegangen ist, und Marcel endlich seine Frau besuchen will, da liegt nur noch das scheußliche Packpapierpaket auf dem leeren Bett. Aha, tot. Nein, der Schnurrenerzähler hat sichs anders überlegt, er möchte seine Zuhörer nicht mit einem schlechten Gefühl nach Hause entlassen, aber die hübsche Wendung soll hier nicht ausgeplaudert werden, charakterisiert sie selbst doch auch wunderbar den Schnurrenerzähler und seine Haltung zu den Wünschen und Hoffnungen seiner Zuhörer.

Anfangs schwingt das Gefühl mit, dass von der Gefühlsdusseligkeit mancher Westler berichtet werde, die sich auf Flüchtlinge als Objekt für das Helfersyndrom förmlich stürzen. Aber der Eindruck, der erweist sich alsbald als falsch, je weiter die Schnurre fortschreitet.

Alle Deatils sind perfekt und meisterhaft erzählt und ineinander gefügt, wer den Begriff vom Kabinettstückchen bemüht, liegt sicher nicht falsch. Wie Idrissa aus dem Container wegrennt, wie er dann unter einem Kai verschwindet. Wie Marx, Karl, nein, Marx, aha, man höre, man höre, Marcel, wie Proust oder Marceau, ein künstlerischer Marx, ein Idealist – Kaurismäki macht hier vielleicht sogar eine Liebeserklärung an diese Art Idealisten, die vermutlich in einer linken Partei wären. Diese unverbesserlichen Idealisten, die zur Veränderung der Welt nichts wesentlich beitragen, die leiden unter der Welt, sich aber nicht sie zu verändern trauen, die sich mit diesen kleinen Spielen schadlos halten an der ungerechten Welt und den Behörden, die die gute Welt demokratiegemäss einrichten sollten aber meist das Gegenteil tun. Wie Marcel Marx auf der Treppe sitzt, den Jungen sieht, oben taucht Kommissar Monet auf, er sieht auch die Stulle, bittet Marx mitzukommen, aber er solle seine Brotzeit noch holen, und die holt er ohne das Sandwich und wie er die Treppe hinauf verschwindet, hört man nur akustisch, dass jemand durch Wasser watet .

Schnurrenhaft, wie Monet die Wohnung von Marx aufsucht und durchsuchen will und Idrissa hinter der Tür zum zweiten Zimmer sich versteckt hat, nur die offene Tür trennt ihn noch vom Kommissar und der Entdeckung und wie Marx bereits das Bügeleisen greift, um ihn eins überzubraten, jedoch Monet sich in diesem Moment umdreht, und Marx davon ablässt, denn das Motto des Filmes, ganz am Anfang auf einem Zeitungstitel zu lesen: Il y a toujours de l’espoir (die Hoffnung stirbt zuletzt).

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