Wie ein Improvisation zu den Bewusstseinszuständen früh verletzter Menschen, die zu kompliziert Liebenden werden, kommt mir dieser Film von Saverio Costanzo vor. Vielleicht ist es auch ein filmischer Versuch, wie das Gedächtnis, die Erinnerung in solchen Fällen arbeiten mögen. So kann ich mir jedenfalls die Bildbearbeitung erklären, die oft einen sehr impressionistischen Eindruck macht, die sehr mit Licht und dessen Auflösung in Partikel spielt oder mit der Auflösung fast alles Erkennbaren im Licht, im Dunst.
Es geht um die Liebe, das Verhältnis zwischen Alice, der Hinkenden mit der Narbe am linken Oberschenkel, wundervoll gespielt von Alba Rohrwacher und Mattia, der im zarten Alter von acht Jahren sein Zwillingsschwesterchen aus Wurstigkeit heraus am Rummel allein gelassen hat und die dann verschwunden ist. Die Erinnerung wird an dieser Stelle wie im Regen ertränkt. Auch akustisch wird der Regen mit spontan improvisiert wirkender Musik verstärkt, wie der achtjährige Mattia von der Geburtstagsparty zurückkommt, zu der er ein in einem grossem Paket verpacktes Puzzle mitgebracht hat und zu der er das Schwesterchen nicht mitnehmen wollte.
Auf dem Kindergeburtstag gibts eine Szene mit einem Clown. Erzählt wird die Rotkäppchen-Geschichte. Nach dieser Szene steht der Junge im Regen in der Helligkeit vor einer langen Tunnelröhre.
Alice hat übrigens mitten in einer Schulaufführung, bei der die Kinder zauberhafte Figuren spielen, einen Schreianfall, ein Phänomen, was bei ihr öfter auftritt.
Die Verletzung von Alice ist beim Skifahren passiert. Der familiäre Aufenthalt in den Bergen im feinen Appartement wird ausgiebig geschildert, fantastische Aufnahmen der verschneiten Gegend und des Bergpanoramas betten ihn in einen grandiosen Rahmen. Der wird kontrastiert durch einen immer wieder zu sehenden verloren wirkenden Hotelflur. Die Erinnerung an die Abfahrt, an die Gondelfahrt geht zusehends im Nebel verloren. Dazwischen sitzt das Mädchen wie eine Prinzessin in einem Riesenbett und schaut ein grausames Comic-Kindermärchen am TV. Zuerst wird am Hof ein Dieb gefangen. Der soll hart bestraft werden. Eine Frau erbarmt sich und bittet den König, den Jungen zu verschonen, er habe nur Hunger gehabt. Also lässt der König den Jungen laufen und wie er sich entfernt, erschiesst er ihn von hinten; darauf möchte die kleine Alice nicht mehr raus in den Schnee.
Die Erlebniss der beiden Kinder, das war 1985.
Schnitt zu 1991. Jetzt gehen sie in die höhere Schule, sind in dem Alter erster Paarungen, der aufgeregten Erwartung der ersten Küsse, der ersten Dates; aber Alica hinkt und wird von ihren Mitschülerinnen verlacht. Dann begegnen sie sich, sie mit ihren Freundinnen kommt dem Mattia mit einem Kumpel entgegen; sie fasziniert ihn sofort wegen ihres Defektes – er selbst entwickelt in der Zeit immer stärker den Hang zu Selbstverstümmelungen, Glasscherben in der Hand zerdrücken – später, wenn man ihn dann fettgefressen sieht mit seinem wissenschaftlichen Job in Jena und ersten Auszeichnungen ist sein Körper voller Narben.
Die Mädchen wollen also die Jungs zur Party einladen. Mattia will erst nicht, aber er frägt Alice schon bald, warum sie hinke. Zuerst sagt er ab. Dann sagt er doch zu. Weil sie ihn zuhause blöd anmachen, er habe ja keine Freunde. So reagiert er trotzig, doch er habe welche und er werde zur Party gehen. Auch dieser Discoabend wird im Discolärm, resp. in der Erinnerung an den Discolärm ertränkt; die Lichtgestaltung versucht auf die Effekte mit der Lichtkugel noch einen drauf zu setzen. So dass Alice und Mattia auf ihre Bitte hin sich in ein Zimmer weiter oben begeben und sie frägt relativ direkt, ob sie küssen sollen. Er weicht aus.
Das war 1991.
Es kommt 2001. Mattia geht zum Studieren nach Jena. Komisch, die Phase fällt mir im Moment schlecht ein. Jedenfalls ist der Mattia dieses Alters sehr dünn, während Alice gut füllig ist. Alice ist inzwischen Fotografin geworden. Man sieht sie oft in ihrem Clo, was auch ihr Fotolabor ist. Alles in Rot. Sie wird zur Hochzeit einer Freundin eingeladen und will unbedingt, dass Mattia ihr Begleiter sein wird. Er wird ihr sagen, dass er nach Jena zum Studieren geht. Es kommt zu vielen Erinnerungen und Gesprächen.
Gegen Ende des Filmes haben Alice und Mattia den Kontakt zu einander verloren. Es ist sechs Jahre später. Mattia ist jetzt richtig fett geworden, man sieht ihn Toilette machen. Er nimmt einen wissenschaftlichen Preis entgegen.
Alice ruft seine Eltern an, lässt sich die Adresse geben, schreibt ihm, er solle sofort kommen. Sie ist total abgemagert, martert sich, bricht leicht zusammen, ist geschieden, sie war mit einem Fabio verheiratet, sie will Mattia sehen; schon sitzt er im Flieger, denn auch er ist allein geblieben.. Er klingelt bei ihr. Sie liegt gekrümmt und nackt auf dem Bett. Sie geht zur Tür. Ah, er ists. Moment. Jetzt legt sie ein Kabinettstück in schnellem Anziehen hin, trotz Entkräftung und Cigarette im Mund hin, bis sie ihn in einem ganz knappen Rock empfängt. Ob sie ihm was zu essen machen soll. Derweil sitzt er gedankenverloren im Salon. Nachher geht er. Setzt sich auf eine Bank in der Nähe. Sie kommt dann dazu. Sie beugt ihren Kopf hinter ihm stehend über die Schulter auf die Brust. Damit endet das Bild im Film. Der Ton geht noch weiter. Man hört Schritte sich entfernen.
Ein komplexer Film, auch durch die ständigen Ineinanderschnitte der verschiedenen Zeitebenen, der sehr bewusst macht, wie die gefährliche Erinnerung nicht abzuwehren ist. Ja fast sieht es so aus, als könnten sich diese Menschen gar nicht gegen ihre Erinnerung wehren, selbst wenn die Musik sogar versucht, ihnen dabei behilflich zu sein, diese zu verdrängen, gelingt aber auch nicht, selbst diese massive Musik kommt gegen die Macht der Erinnerung der Verletzten nicht an.
Es handelt sich um eine Koproduktion, die sinnvoll erschien, bei der wirtschaftliche Überlegungen nicht die künstlerische Freiheit bandagieren, sondern sie beflügeln. Kompliment an die Bavaria. Deutschland hat sich als Koproduktionsland, was zusätzlich Gelder brachte, vom Roman von Paolo Giordano, der dem Drehbuch zugrunde liegt, angeboten. Im Roman studiert Mattia irgendwo im Norden. Jena und die schönen DDR-Mosaike passen prima.
Der Primat des Künstlerischen, ja des Experimentellen scheint sich vor den Zwängen der Koproduktion durchgesetzt zu haben, durchaus zum Vorteil des Filmes.
Einzig die deutsche Synchronisation scheint von diesem künstlerischen Furor vollkommen unbeleckt, gerade die Männer schreien sowas von platt und unsensibel, wenn sie aufgeregt sind. Glück für die Filmfestbesucher: hier ist die Originalfassung mit deutschen Untertiteln angekündigt.