Die Einsamkeit der Primzahlen (Filmfest München)

Wie ein Improvisation zu den Bewusstseinszuständen früh verletzter Menschen, die zu kompliziert Liebenden werden, kommt mir dieser Film von Saverio Costanzo vor. Vielleicht ist es auch ein filmischer Versuch, wie das Gedächtnis, die Erinnerung in solchen Fällen arbeiten mögen. So kann ich mir jedenfalls die Bildbearbeitung erklären, die oft einen sehr impressionistischen Eindruck macht, die sehr mit Licht und dessen Auflösung in Partikel spielt oder mit der Auflösung fast alles Erkennbaren im Licht, im Dunst.

Es geht um die Liebe, das Verhältnis zwischen Alice, der Hinkenden mit der Narbe am linken Oberschenkel, wundervoll gespielt von Alba Rohrwacher und Mattia, der im zarten Alter von acht Jahren sein Zwillingsschwesterchen aus Wurstigkeit heraus am Rummel allein gelassen hat und die dann verschwunden ist. Die Erinnerung wird an dieser Stelle wie im Regen ertränkt. Auch akustisch wird der Regen mit spontan improvisiert wirkender Musik verstärkt, wie der achtjährige Mattia von der Geburtstagsparty zurückkommt, zu der er ein in einem grossem Paket verpacktes Puzzle mitgebracht hat und zu der er das Schwesterchen nicht mitnehmen wollte.

Auf dem Kindergeburtstag gibts eine Szene mit einem Clown. Erzählt wird die Rotkäppchen-Geschichte. Nach dieser Szene steht der Junge im Regen in der Helligkeit vor einer langen Tunnelröhre.

Alice hat übrigens mitten in einer Schulaufführung, bei der die Kinder zauberhafte Figuren spielen, einen Schreianfall, ein Phänomen, was bei ihr öfter auftritt.

Die Verletzung von Alice ist beim Skifahren passiert. Der familiäre Aufenthalt in den Bergen im feinen Appartement wird ausgiebig geschildert, fantastische Aufnahmen der verschneiten Gegend und des Bergpanoramas betten ihn in einen grandiosen Rahmen. Der wird kontrastiert durch einen immer wieder zu sehenden verloren wirkenden Hotelflur. Die Erinnerung an die Abfahrt, an die Gondelfahrt geht zusehends im Nebel verloren. Dazwischen sitzt das Mädchen wie eine Prinzessin in einem Riesenbett und schaut ein grausames Comic-Kindermärchen am TV. Zuerst wird am Hof ein Dieb gefangen. Der soll hart bestraft werden. Eine Frau erbarmt sich und bittet den König, den Jungen zu verschonen, er habe nur Hunger gehabt. Also lässt der König den Jungen laufen und wie er sich entfernt, erschiesst er ihn von hinten; darauf möchte die kleine Alice nicht mehr raus in den Schnee.

Die Erlebniss der beiden Kinder, das war 1985.

Schnitt zu 1991. Jetzt gehen sie in die höhere Schule, sind in dem Alter erster Paarungen, der aufgeregten Erwartung der ersten Küsse, der ersten Dates; aber Alica hinkt und wird von ihren Mitschülerinnen verlacht. Dann begegnen sie sich, sie mit ihren Freundinnen kommt dem Mattia mit einem Kumpel entgegen; sie fasziniert ihn sofort wegen ihres Defektes – er selbst entwickelt in der Zeit immer stärker den Hang zu Selbstverstümmelungen, Glasscherben in der Hand zerdrücken – später, wenn man ihn dann fettgefressen sieht mit seinem wissenschaftlichen Job in Jena und ersten Auszeichnungen ist sein Körper voller Narben.

Die Mädchen wollen also die Jungs zur Party einladen. Mattia will erst nicht, aber er frägt Alice schon bald, warum sie hinke. Zuerst sagt er ab. Dann sagt er doch zu. Weil sie ihn zuhause blöd anmachen, er habe ja keine Freunde. So reagiert er trotzig, doch er habe welche und er werde zur Party gehen. Auch dieser Discoabend wird im Discolärm, resp. in der Erinnerung an den Discolärm ertränkt; die Lichtgestaltung versucht auf die Effekte mit der Lichtkugel noch einen drauf zu setzen. So dass Alice und Mattia auf ihre Bitte hin sich in ein Zimmer weiter oben begeben und sie frägt relativ direkt, ob sie küssen sollen. Er weicht aus.

Das war 1991.

Es kommt 2001. Mattia geht zum Studieren nach Jena. Komisch, die Phase fällt mir im Moment schlecht ein. Jedenfalls ist der Mattia dieses Alters sehr dünn, während Alice gut füllig ist. Alice ist inzwischen Fotografin geworden. Man sieht sie oft in ihrem Clo, was auch ihr Fotolabor ist. Alles in Rot. Sie wird zur Hochzeit einer Freundin eingeladen und will unbedingt, dass Mattia ihr Begleiter sein wird. Er wird ihr sagen, dass er nach Jena zum Studieren geht. Es kommt zu vielen Erinnerungen und Gesprächen.

Gegen Ende des Filmes haben Alice und Mattia den Kontakt zu einander verloren. Es ist sechs Jahre später. Mattia ist jetzt richtig fett geworden, man sieht ihn Toilette machen. Er nimmt einen wissenschaftlichen Preis entgegen.

Alice ruft seine Eltern an, lässt sich die Adresse geben, schreibt ihm, er solle sofort kommen. Sie ist total abgemagert, martert sich, bricht leicht zusammen, ist geschieden, sie war mit einem Fabio verheiratet, sie will Mattia sehen; schon sitzt er im Flieger, denn auch er ist allein geblieben.. Er klingelt bei ihr. Sie liegt gekrümmt und nackt auf dem Bett. Sie geht zur Tür. Ah, er ists. Moment. Jetzt legt sie ein Kabinettstück in schnellem Anziehen hin, trotz Entkräftung und Cigarette im Mund hin, bis sie ihn in einem ganz knappen Rock empfängt. Ob sie ihm was zu essen machen soll. Derweil sitzt er gedankenverloren im Salon. Nachher geht er. Setzt sich auf eine Bank in der Nähe. Sie kommt dann dazu. Sie beugt ihren Kopf hinter ihm stehend über die Schulter auf die Brust. Damit endet das Bild im Film. Der Ton geht noch weiter. Man hört Schritte sich entfernen.

Ein komplexer Film, auch durch die ständigen Ineinanderschnitte der verschiedenen Zeitebenen, der sehr bewusst macht, wie die gefährliche Erinnerung nicht abzuwehren ist. Ja fast sieht es so aus, als könnten sich diese Menschen gar nicht gegen ihre Erinnerung wehren, selbst wenn die Musik sogar versucht, ihnen dabei behilflich zu sein, diese zu verdrängen, gelingt aber auch nicht, selbst diese massive Musik kommt gegen die Macht der Erinnerung der Verletzten nicht an.

Es handelt sich um eine Koproduktion, die sinnvoll erschien, bei der wirtschaftliche Überlegungen nicht die künstlerische Freiheit bandagieren, sondern sie beflügeln. Kompliment an die Bavaria. Deutschland hat sich als Koproduktionsland, was zusätzlich Gelder brachte, vom Roman von Paolo Giordano, der dem Drehbuch zugrunde liegt, angeboten. Im Roman studiert Mattia irgendwo im Norden. Jena und die schönen DDR-Mosaike passen prima.

Der Primat des Künstlerischen, ja des Experimentellen scheint sich vor den Zwängen der Koproduktion durchgesetzt zu haben, durchaus zum Vorteil des Filmes.

Einzig die deutsche Synchronisation scheint von diesem künstlerischen Furor vollkommen unbeleckt, gerade die Männer schreien sowas von platt und unsensibel, wenn sie aufgeregt sind. Glück für die Filmfestbesucher: hier ist die Originalfassung mit deutschen Untertiteln angekündigt.

Confessions – Geständnisse (Filmfest München)

Da ist es wieder einmal, das gelegentliche Rezeptionsproblem mit asiatischen Filmen. Zum einen sprechen die Leute oft sehr schnell und deutsche Übersetzungen, sprich Untertitelungen können sehr lange sein und nur kurz zu sehen. Dieses Problem ist hier prima gelöst, sowohl was die Sichtbarkeit als auch Verständlichkeit der Untertitel anlangt.

Das andere Problem ist das der Physiognomie. Für mich jedenfalls ist es immer schwierig, die einzelnen Figuren zu unterscheiden, und auch noch die Namen, die sich für uns doch alle sehr ähnlich anhören: Moriguchi, Watanabe, Naoki Shimomura – also bei genauem Hinschauen sind die schon sehr verschieden, aber mir fehlen dann vielleicht die Eselsbrücken, sie zu merken.

Mit den Gesichtern habe ich das Problem, besonders wenn es sich um junge Darsteller handelt und erst recht, wenn sie alle noch ähnliche Frisuren haben, lange oder kürzere grade schwarze Haare und wenn die Kids dann noch wie hier meist Schulunfiormen tragen. Nur das Opfer, das Mädchen das kleine ist durch ein kitschiges Requisit, ein Handtäschchen, charakterisiert.

Aber das Mädchen sehen wir vor allem tot im Teich. Um diesen Tod geht es im Film. Genauer gesagt, um die Rachefantasien, in die sich die Beteiligten hineinsteigern.

Das erste Opfer ist die Lehrerin, die Mutter des Kindes, das zwei ihrer Schüler umgebracht haben.

Zur Erzähl-Methode von Tetsuya Nakashima muss noch erwähnt werden, dass sie sich streng nach dem Titel richtet. Der Film ist in Kapitel eingeteilt. Ein jedes ist das Geständnis der Rachefantasie eines der Beteiligten. Die Geständisse sind sehr innerlich, sehr reflexiv gesprochene Monolge, sei es der Lehrerin, oder der mörderischen Schüler, die auf die perfide Rachefantasie der Lehrerin mit noch perfideren Rachefantasien reagieren. Jedes Kapitel hat eine angenehm unaufgeregte, besonnene Voic-Over der jeweiligen Hauptperson.

Anfangen tut es mit dem Geständnis der Rachefantasie der Lehrerin. Wie allerdings bereits die Schulklasse geschildert wird, dieser Lärm, dieses explosive, schier nicht zu bändigende Leben, dieser ständige Aufruhr und Pegel, allein das ist schon geniales Regiewerk. Und wie anfangs die Milchtüten überall da sind, durch die Luft fliegen, wie sie auskippen – und immer wenn eine Bewegung oder ein Unfall spannend wird, dann geht die Kamera nah ran, verlangsamt die Aufnahme und bewirkt so die irrsinnigsten Effekt, die noch dazu immer grandios ineinander geschnitten sind, die Effekte, der Tumult in der Schule, die Rückblenden auf das Vebrechen und der Lehrerin sanfte Voice-Over.

So geht es in allen Kapiteln. Jedenfalls gibt die Lehrerin Ende der Stunde bekannt, dass sie den beiden Tätern, die sie kenne, Schulmilch zugesteckt habe, die mit dem Aids-Virus infiziert seien und sie sagt es ganz drastisch und direkt, wie lange die Inkubationszeit laufe und wie die Krankheit dann verlaufe und ende.

Im Gegenzug zu dieser Rache entwickelt der eine der Mörder, ein wie es heisst hochbegabter Schüler, was später auch wieder in Zweifel gezogen wird, eine böse Bombe, die er bei seiner Dankesrede für einen Preis, den er erhält, unterm Rednerpult versteckt hat und mit dem Handy zur Explosion bringen lassen will. Je intelligenter einer ist, desto raffiniertere Tötfantasien kann er entwicklen. (Kim Ki-duk wird sich in seinem Film ARIRANG, der auch am Filmfest läuft, wunderbar aufregen darüber, wie leicht es sei, das Böse im Film darzustellen).

Jedenfalls wird der Auftritt gezeigt. Der Schüler steht am Rednerpult, sehr diszipliniert bejubelt vom grossen Auditorium. Er steht vorn, streckt einen Arm in die Höhe, mit der anderen Hand versucht er mit dem Handy die Bombe, die eine ungeheure Zestörungskraft hätte, zur Explosion zu bringen. Aber nichts rührt sich. Er schaut nach. Die Bombe ist entfernt worden. Nun bringt ihm die Lehrerin, die alles vorhergesehen hat, die Auflösung, und sie selbst hat die Bombe, die wohl dieletanttischst gebastelt worden sei (also nix da mit superintelligent) und leicht zu entschärfen, mit einem Knipser mit der Drahtschere unschädlich hat.

Es geht dann um Relief, um Erleichterung
Dabei hatte der böse Schüler noch Raskolnikov zitiert mit dem Satz vom Recht auf das Töten. Spätestens mit dem Anruf der Lehrerin nach der nicht statt gefundenen Bombenexplosion wird klar, dass es sich hier nicht um einen Revenge-Streifen der üblichen Art handelt, sondern viel mehr um ein Spiel mit Rachefantasien; es kommt auch kurz die Psychologie ins Spiel: die Lehrerin hat beim bösen Schüler wunderbar seine Einsamkeit als Schwachstelle analysiert. Darüber wir ein Lied eingespielt, dessen Text fragt, erinnerst Du Dich an den Pfad, auf dem wir uns trafen, lang, lang, lang ists her.

Rachefantasien sind menschlich, aber für die Realisierung ungeeignet. Das ist die hier in cineastisch brilliant bebilderter Atemlosigkeit vorgetragene These. Drum kann am Ende auch das Wort vorkommen, es sei ja alles nur ein Witz gewesen.

Als kurze Gedankenpausen in den Monologen, die diese GESTÄNDNISSE aussprechen, gibt’s immer wieder den Blick auf einen malerischen Wolkenhimmel, Wolken, die in gewittrigen-giftigen Farben drohend leuchten und schnell herbeiziehen.

Dass es sch vielleicht doch um einen augenzwinkernden Witz über Rachefantasien gehandelt haben könnte, zeigt erst das allerletzte dieser Wolkenbilder, welches schon weit zwischen den Titeln im Abspann platziert ist: da lugt zum ersten Mal die Sonne kurz hervor! Das Augenzwinkern des Himmels.

The Journals of Musan (Filmfest München)

Hier die koreanische Variante für die Dardenne-Strömung im Weltkino. Dabei dürfte auch erstaunen, mit welche Leichtigkeit in Korea ein solcher Film, der offenbar sehr genau beobachtet, produziert wird. Im Gegensatz zum auch heute auf dem Programm stehenden MAJORITY aus der Türkei, würde ich hier allerdings nicht von einem explizit abstrakten Thema, wie Unterdrückung der Minderheit durch die Majority sprechen. Hier geht es um den Überlebenskampf eine Outsidergruppe in Südkorea, wenn ich das richtig verstanden habe, Menschen, die aus Nordkorea abgehauen sind, die illegal in Südkorea leben, resp. mit gefälschten IDs und die sich am Rande der Gesellschaft in anonymen Megavorstädten von Seoul vermutlich durchschlagen. Insofern ist dieser Film vielleicht näher beim Dardenne-Modell dran. In der englischen

Der Regisseur selbst spielt die Hauptrolle, den defector, wie die aus Nordkorea abgehauenen in der englischen Untertitelung heissen, JEON Seung-chul.

Die defectors sind eine Aussenseitergruppe, halten aber offenbar auch wichtige illegale Geschäftsadern nach China aufrecht. Das wird deutlich bei einem Bewerbungsgespräch unseres Protagonisten für einen Job als Kurier nach China, der immerhin pro Reise 200 Dollar bringen würde, viel im Vergleich zum bescheidenen Stundenlohn von drei oder vier Dollar als Plakatkleber. Den Kurierjob erhält er aber nicht, obwohl er wegen der Sprachkenntnisse geeignet wäre, aber seiner ID ist wegen der Nummerkombination die Fälschung sofort abzulesen. Das würde an der Grenze sofort auffallen.

Jeon verdient etwas Geld als Plakatkleber, er ist bei einem Bekannten untergekommen in einer Wohnung in einem riesigen Wohnblock. Der Hauptbewohner ist ein älterer Nordkoreaner, den sie alle den Detective nennen und der sich auch ein bisschen um die neu angekommen Flüchtlinge kümmert, ihnen Obdach bietet oder Jeon auch das weiße Hemd für den Sonntagsgottesdienst leiht.

Jeon scheisst sein Job als Plakatkleber ziemlich an, er macht ihn nicht besonders gut, die Plakate halten nicht lange; er läuft sowieso etwas verstört und verschlossen rum. Wir lernen ihn kennen, wie er an einer endlos langen Plakatwand am Rande einer vielspurigen Stadtautobahn Plakate klebt. Dann watschelt er mit seiner Umhängetasche für die Plakate und einigen Kleberollen am Arm über ein Ruinenfeld eines abgebrochenen Dorfes auf die mächtige Kulisse an Wohnblocks zu. Dort wäscht auf dem Boden im Clo ein blutiges Kleidungsstück; eine Frau kommt rein, setzt sich auf die Closschüssel, raucht. Es ist die Geliebte eines Mitbewohners. Denn da ist ein weiterer Nordkoreaner, den er schon von früher kannte. Der war immer etwas halbseiden, und wie wir bald sehen, ist es noch. Er ist aber erst nett zu Jeon, kauft ihm eine wärmende Daunenjacke. Gleichzeitig will er aber noch Hosen klauen im Laden. Der Alte geblieben.

Jeon hat aber noch ein Ausfluchtsumfeld und das betritt er sehr ernsthaft. Es ist die Kirche. Dort verliebt er sich in eine Sängerin vom Chor. Er geht ihr nach, sieht dass sie in einer Karaoke-Bar arbeitet. Er bewirbt sich auch dort und kann als Bedienung anfangen. Eine Karaoke-Bar ist ein Etablissement mit vielen Separees, kleinen Tonstudios, in denen ein bis zwei Personen Karaokesingen üben können. Jeon darf Getränke servieren. Da er aber ein sehr verschlossener Mensch ist und Gefühle nicht zeigen kann, da sich einiges in ihm aufgestaut haben dürfte, zettelt er eine Schlägerei an. Ihm passt es nicht, dass ein Mann eine Frau begrapscht, obwohl die das mit Vergnügen mit sich machen lässt.

Nicht genug des Ärgers. Solchen bekommt er auch mit einer anderen Gruppe von Plakatklebern, die finden er dürfe nicht in ihrem Revier Plakate kleben. Die lauern ihm im Ruinenödland vor den Hochhäusern auf.

Einmal steht er auf dem Balkon der kleinen Wohnung. Im Zimmer bumst der Detectiv gerade eine Frau. Ganz neugierig schaut Jeon durchs Fenster. Er hat sowas nicht. Er ist sehr einsam. So wie der Hund, den er kauft, eine weisse Mischung, ein niedliches kleines Tier, für das er eine Hütte aus Pappkarton baut.

Das Mädchen vom Kirchenchor, das er jetzt kennengelernt hat, möchte übrigens nicht, dass die Gemeindemitglieder erfahren, dass sie sich kennen und dass sie in dem Etablissement arbeitet.

Beim ersten Mal, da die Plakatkonkurrenten ihn verfolgen, rennt er davon, überquert unter Lebensgefahr die Autostrasse – direkt einem Polizisten in die Arme. Busse: 20 Dollar.

Rührende Szene: zuhause angekommen schlafen die Kumpels schon, einer auf dem Bett, einer auf dem Boden, angezogen, er deckt sie mit Decken zu.

Der Halbseidene aus der WG möchte, da ihm hier der Boden zu heiß wird, in die USA abhauen. Sie haben ein Hustler-Magazin vor sich. Und Jack Daniels. Sie unterhalten sich über den Unterchied zwischen amerikanischen und koreanischen Titten. Und in den USA würde man 8 Dollar die Stunde verdienen. Der Halbseidene verdient sich ein bisschen Geld mit Reden bei Veranstaltungen zur antikommunistischen Erziehung für Nordkoreaner.

Der Halbseiden versucht jetzt, da ihm die Kohle ausgeht, den Hund von Jeon zu verkaufen. Aber eine Mischung will niemand. Er zerrt ihn dann brutal hinter sich her. Schließlich lässt er ihn einfach auf der Strasse stehen. Jeon muss ihn dann suchen. Vielleicht ist diese südkoreanische Geschichte doch etwas sentimentaler als die erwähnte türkische. Zum Beispiel ganz am Anfang schenkt die Bettgefährtin vom Detectiv dem armen Schlucker Jeon ein wunderschönes Kopfkissen in Herzform, das er rührend anschaut, wie ein Nackenrolle zwischen seinen Hals und die Wand klemmt und so an die Wand gelehnt ein Buch liest. Was für eines, wissen wir nicht.

Es gibt dann mit dem Halbseidenen grössere Problem um 25`000 Dollar, die verschwunden sind. ER wird von seinen Geläubigern gesucht, sie zerstörunge die Wohnung. Und nur Jeon kann dorthin zurück, um das Geld aus dem Hundhäuschen zu retten. Weil er ein gutmütiger Kerl ist, will er ihm das auch bringen. Schon sitzt er im Bus, den Hund auf seinem Schoss. Die Haltestelle nähert sich, wo der Halbseidene auf ihn wartet. Er sieht ihn. Er duckt sich. Er wird nicht gesehen. Jetzt ist das Geld sein. Frisch eingekleidet und frisiert taucht er nun im Karaoke-Etablissement auf. Und die Kirchenchorsänerin führt ihn offiziell in der Gemeinde ein und er wird Mitglied im Kirchenchor.

Nun ja, das wird dann doch etwas süsslich, so wie es bei den Gebrüdern Dardenne wohl nicht enden würde.

Andererseits gibt’s eine bittere Szene: vor den Gemeindemitgliedern gesteht Jeon, dass er in Nordkorea aus purem Hunger einen Menschen umgebracht habe. Weiter wird dieses Thema aber nicht vertieft.

Mein Fazit: ein interessanter Einblick in eine Ecke der südkoreanischen Gesellschaft und auch des Filmeschaffens, das sich heimischer Probleme annimmt. Genau richtig für ein Filmfestival.

Majority (Filmfest München)

Ganz in der Art der Gebrüder Dardenne, und das ist sicher eine der spannenderen Strömungen im aktuellen Kino, verfolgt Seren Yüce ganz nah Mertkan, den Sohn von Kemal, der wie schon der Name sagt ein durchaus stolztürkischer Familenvater und Geschäftsmann ist, durch sein Leben: Das ergibt auch einen spannenden Bericht über die Lebensverhältnisse in der modernen Türkei und wie nebenbei wird das zentrale Thema „Missachtung oder Unterdrückung von Minderheiten“ behandelt. .

Das wird in den ersten Szenen angekündigt. Sowohl das Verhältnis zum Vater. Der Vater läuft durch einen Wald mit dichten Stämmen und der dickliche, sprich verwöhnte Bub, 50 Meter hinter ihm her. Der Vater treibt ihn an.

Dann sind sie zuhause in einer gut bürgerlichen Wohnung in Istanbul angekommen. Die kurdische Putzfrau ist gerade im Flur mit Putzen beschäftigt. Sie begrüsst Mertkan mit einem Kosenamen und wird aus dem Off rigide korrigiert, wie man den Namend des Sohnes anzusprechen haben.

Dann kommt aus dem Zimmer, wo der Junge verschwunden ist, ein kindliches Bein, versetzt der Putzfrau einen Fusstritt in die Seite, dass sie gegen die Wand klascht. Ende Einleitung.

Ein Sprung über einige Jahre. Kemal ist jetzt erwachsen, wohnt aber noch zuhause. Er sollte im Geschäft des Vaters mitarbeiten, hängt aber lieber mit den Kumpels rum und onaniert zuhause, denn eine Frau oder Freundin hat er auch nicht.

Der Film begleitet jetzt Kemal in immer sehr kurzen signifikanten Szenen durch sein Leben, erfasst dabei seine verschiedenen sozialen Umfelder und berichtet etwas darüber und auch über die Spannungen, die innerhalb und zwischen den verschiedener Umfelder entstehen können.

Das eine Gebiet ist das Zuhause mit der fürsorglichen Mutter, die sich später im Film fragen wird, ob sie mit der Erziehung alles richtig gemacht habe. Das andere, das für ihn unanenehmste, ist das geschäftliche Feld von seinem Vater, der ein Bauunternehmer ist. Der schickt ihn einmal mit einer Ladung Holz an eine entfernte Baustelle, nur damit er weg von Zuhause und von dummen Gedanken ist. An der Baustelle können die gar nichts mit dem Holz anfangeb. Es gehört ein Büro dazu, wo er statt zu arbeiten am Computer Kartenspiele spielt, das wird in einer Szene ersichtlich, wie er Spielkarten auf dem Bildschirm hat und wie sein Bruder, der wohl nach dem Vater geraten ist, reinkommt und sich an den Computer setzen soll. Er muss erst zu den Seiten mit Zahlen und Tabellen wechseln. Es gehören die Baustellen dazu, zu einer solchen wird er, wie die Familie mit seiner Liebesgeschichte nicht mehr zurechtkommt als Wochenaufenthalter zwangsversetzt. Es gehört der Sauna-Besuch mit dem Vater und seinen Freunden dazu. Er darf einen Freund vom Vater, einen Teppichhändler und allenfalls auch mal Polizeirapportfälscher an den Schultern massieren. Hier wird von ihm verlangt, er müsse selbstverständlich zu Armee gehen, in den Betireb einsteigen und dann heiraten.

Zum familiären Umfeld gehört selbstverständlich seine Mutter, die sich nach seinem ersten Wochenaufenthalt in Gebze am dringlichsten nach seiner Wäsche erkundigt, die sie machen möchte. Die ihn aber auch früher geschimpft hat, dass selbst zwei Einkaufstüten zu tragen für ihn zu viel sei.

Sein Ausfluchtsumfeld sind seine Buddies, mit denen er rumhängt in Bars und Discos, mit denen er Hasch und Alkohol konsumiert über Frauen redet und die meist auch vergeblich anmacht.

Sein intimes Umfeld wird plötzlich erweitert durch Gül, eine Kurdin wie wir später erfahren, die in einem Imbiss jobbt. Erste Anbandelversuch lässt er aus Blödheit platzen, er hätte sie sehr gut auf ihrem Heimweg mitnehmen können mit seinem arroganten schwarzen Cherokee-Jeep, also mit dem vom Vater. Die Liebesgeschichte nimmt einen türkischen Verlauf. Einmal sitzen sie nur nebeneinander im Zimmer und dann muss er plötzlich los. Also, er hat Schiss gekriegt. Inzwischen haben Ganoven sein Auto aufgebrochen und den Musikplayer rausgeklaut. Das heißt Anzeige bei der Polizei, Ärger mit dem Vater und das Auto in die entfernte Garage bringen. Und von dort mit dem öffentlichen Bus, wie armselig eingeklemmt steht er dadrin, wie fremd, nach Hause fahren. Das nächste Mal bei Gül, sie hat ihn übrigens damit gekriegt, dass sie ihn handsome, so die englische Untertitelung, findet. Das hat ihm noch nie jemand gesagt. Und sie bringt ihm beim nächsten Treffen ein Geschenk mit, einen Bildband über Architektur. Er sagt, sein Vater baue andere Häuser und ein Buch habe er noch nie in Händen gehabt. Wenn das mal nicht tief blicken lässt.

Das zweite Mal sitzen sie erst lange nebeneinander. Eigentlich liegt in der Luft, was folgen soll. Das folgt dann erst mit einem urplötzlichen Kuss auf die Wange und sofortigem Rückzug. Dann stürzt er sich aber fast auf sie. Endlich der lang ersehnte Fick. Fuck and dump wird ihm später der buddy sagen. Mit den Buddies kann man sich ungeniert über die Frauen unterhalten.

Also die Beziehung kommt in Gan. Gül wohnt übrigens in einer Art Frauen-WG, da ist noch ein kleines Mädchen aus verwahrlosten Verhältnissen, das hier besser die Hausaufgaben machen kann und eine Freundin von Gül. Diese wird also bei den Eltern von Mertkan eingeführt. Für ein Bauernmädchen ohne Geschichte aus dem Osten des Landes hat nun Papa kein Verständnis. Das kann nur eine Kurdin sein. Die heiratest Du nicht.

Nun wird also Mertkan hin und hergerissen zwischen seinen verschiedenen Beziehungsfeldern und bringt nichts zustande.

Zwischendrin stirbt noch Mirschan, die kurdische Putzfrau. Da ist Mertkan einen Moment sehr melancholisch.

Dadurch, dass er Gül nicht mehr sehen soll, wendet er sich wieder mehr den Buddies zu, das heißt also auch dem Hasch und dem Alkohol. Es gibt noch einen beschssenen Anbandelversuch in der Disco. Und dann: eine Alkoholfahrt mit Sachschaden bei einem Taxifahrer. Das will eben der Vater mit einer Abänderung des Polizeibefundes aus der Welt schaffen. Er lässt auch den Taxifahrer, wie der mit der Restforderung bei ihm auftaucht, brutal abfahren und stürzt sich auf ihn. Der Teppichhändler ist der Retter in der Not und sorgt für die richtigen Protokolle.

In der heißeren Phase des Filmes trägt der alte Kemal, der mit dem Glatzkopf, also der Vater, einen grünen Pullover mit der Aufschrift RAPTURE (Begeisterung, Entzückung, Freudentaumel sagt mir Leos Internet-Dictionnary dazu). Während der Sohn einen Pullover trägt, auf dem zu lesen ist: erst das durchgestrichene Wort „Amuse“, dann „Desing MOOZ, was immer das heissen mag.

Die Geschichte mit Gül nimmt dann die Wendung, dass Verwandte aus dem Osten sie aufgespürt und sie zurück in die Heimat geholt haben. Zwangsheirt dürfte die richtige Assoziation dazu sein.

Als Resultat all der Krisen wird Mertkan für während der Woche vom Vater auf den Bauplatz von Gebze beordert und führt sich dort auf wie ein brutaler Diktator. Hat dann einen Reinigungstraum. Und dürfte ab da sein kemalitsiches Türkentum nach den Vorstellungen des Vater praktizieren können.

Ein spannender Soziorealismus, der viel über die heutige Türkei erzählt und sehr glaubwürdig inszeniert und gespielt wird, allen voran der untaugliche Sohn Mertkan von Bartu Kücükcaglayan. Türkisches Kino mit Weltformat.