Naokos Lächeln

Liebesgeschichte um eine komplizierte Frau und zwei Selbstmorde. Verfilmung eines weltweit erfolgreichen Romans von Haruki Murakami. Der Film ist ein nahrhaftes Werk auch für jemanden, der den Roman nicht kennt. Insofern dürften seine Erfolgschancen noch größer sein, als wenn er insiderisch verfilmt worden wäre. Tran Anh Hung hat den Film gemacht. Er ist mit DER DUFT DER GRÜNEN PAPAYA bekannt geworden.

Der Film  spielt in Tokio und Umgebung in den 60ern, fängt an im Studentenmilieu, wo Protestaktionen In sind, aber unser Hauptdarsteller Watanabe hat andere Probleme. Er liebt Naoko. Sie ist in der deutschen Übersetzung die Titelfigur, im Original heißt der Film: Norwegian Wood und das ist was für Musikkenner.

An der Uni will der Professor gerade über ANDROMACHE referieren, die Frauengestalt aus der griechischen Mythologie, die männerbekämpfende, wie es heißt; aber der Professor wird unterbrochen von protestierenden Studenten, die ihre politischen Statements abzugeben wünschen. Der Professor findet jedoch, es gebe nichts Spannenderes als die griechische Mythologie und das dürfte sich mit der Meinung des Filmemachers decken, der sich nicht den Studentenprotesten, sondern der Geschichte der komplizierten Frau Naoko, die Kizuki in den Selbstmord treibt, zuwendet. Andromache – oder Naoko? – die Männer Bekämpfende.

Watanabe, der Student, der sich mehr für Naoko als für die Studentenproteste interessiert, fragt Naoko später, ob sie mit Kizuki geschlafen habe; sie sagt, ja einmal, aber sie sei nicht feucht geworden; sie hat Watanabe somit noch eine gewisse Exklusivität zu bieten. Sie bleibt für ihn verlockend. Denn die Spinne muss ihr Opfer ins Netz locken.

Wie Naoko nun versucht, Watanabe in ihr Netz einzuspinnen, dieser Versuch, dessen Erfolg nie plump absehbar ist, füllt den Hauptteil des Filmes. Sie kann ihn mit dem Exklusivitätsversprechen jetzt beliebig an seinem Begehren nach ihr und seinem Drang nach sexueller Befriedigung gängeln. Das tut sie lust- und kunstvoll.

Bei einem langen Gespräche im Gehen der beiden hatte Watanabe ihr seine Liebe gestanden, obwohl vor allem sie geredet hat und ihre eigene Kompliziertheit dargestellt hatte, aber irgendwie hatte sie wohl in Watanabe dadurch die Disposition geschaffen, dass er sich auf ihr Spiel, hoffnungsvoll, einlässt.

Dabei ist Krankheit eines der besonders raffinierten Gängelinstrumente. Denn krankheitshalber sucht Naoko Zuflucht auf dem Lande. Dort sucht Watanabe sie immer wieder auf, fühlt sich unwiderstehlich angezogen. Sie reden auch über Liebe und Sex; sie kann sehr direkt fragen, als ob sie das weiter nicht berühre, ob sich denn die Studenten im Wohnheim alle selber befriedigten und ob sie dabei an Frauen dächten oder wie das denn mit dem Ständer sei, ob das weh tue und ob er einen habe und sie könne es ihm mit der Hand besorgen und wie sie damit anfängt, schwenkt die Kamera diskret nach oben. Logisch, dass das Lust auf mehr, auf weitere Besuche macht.

Eine solche Frau ist für einen Liebeshungrigen zum Verzweifeln, umso mehr als sie in ihrem Asyl immer Reiko um sich hat, die auch gleich zu Anfang beim ersten Besuch von Watanabe klar stellt, dass Naoko besondere Aufmerksamkeit brauche und sie sie nie aus den Augen lassen werde. Über Andromache wird geschrieben, dass sie lesbisch gewesen sei. Unangenehm für Watanbe. So haut Naoko nachts ab. Bei dieser Exkursion dürfte sie das einzige Mal Sex mit Watanabe gehabt haben, Sex, bei dem sie feucht geworden ist.

Jetzt könnte die Beziehung ernsthafter mit garantierter Intimität werden. Denkste. Das war schon wieder too much für Naoko. Viele Briefe wechseln hin und her; Entschuldigungen ihrerseits über ihre Kompliziertheit und dass sie noch eine Weile brauche, aber nie ein definitives Schlusswort.

In der Zeit lernt Watanabe in einem einsamen Moment Midori kennen. Auch sie ist nicht einfach; sie möchte ihn ganz für sich und keine andere neben sich haben. Er muss sich Midori also aufsparen, bis Naoko sich aufgehängt hat am Meer; was er natürlich nicht voraussehen kann. Daraufhin macht er wilde Trauertage und Nächte am Strand. Tran Anh Hung haut eine heftige Musik drauf, lässt ihn heulen wie ein Wolf, aber seine Stimme hört man in diesem Moment nicht, der Geifer läuft ihm in einem langen Faden aus dem Mund und wabert hin und her und der Bart ist ihm gewachsen, wie er überhaupt im Laufe des Filmes vom Milchbuben zum Mann wird.

Schließlich hatte er ja noch jenes Erlebnis vom Partnertausch mit seinem Kumpel, wie sie beide eine Frau aufgerissen hatten und mitten in der Nacht, jeder ins Zimmer des anderen sei und mit der dort vorhandenen Frau weitergemacht habe; so richtig Lust habe das aber nicht bereitet.

Ist das jetzt mehr ein Film über die Komplikationen der Mannwerdung oder über die Kompliziertheiten des Frauseins?

Mein Freund Knerten

Was Fantasie alles zu leisten imstande ist, das vermittelt uns Lillebroer, der kleine Bruder. Er ist der jüngste in einer Familie mit Papa, Mama und älterem Bruder, der schon groß ist. Die Familie muss von der Stadt aus einem lebhaften Wohnblock aufs Land ziehen. So ein Umzug aus einer heimatwerdenden Umgebung, in die ein Kind eben am  Hineinwachsen ist, ist normalerweise ein großes Problem, das sich leicht zur Katastrophe, Verhaltensstörungen, Lernschwierigkeiten, Identitätsverlust oder gravierenden Entwicklungsstörungen auswachsen kann, wenn die Freunde nicht mehr da sind, wenn das was sich  ein Kind an Umgebung angeeignet hat, plötzlich wegfällt. Aber der Mensch ist mit der Gabe der Fantasie ausgerüstet; die kann in so einem Fall die Kraft entwickeln, die der Mensch braucht, um sich sozusagen am eigenen Schopf aus dem Elend zu ziehen. Dazu bedarf es wenig, Es reicht, wie zur Bildung eines Regentropfens ein Staubkorn genügt, ein kleines Astgäbelchen, das vom Baum fällt und wie ein Männlein aussieht. Es ist vom Baum gefallen, weil der Vater sich am Baum zu schaffen gemacht hat. Es springt Lillebroer gleich an. Liebe auf den ersten Blick. Namensgebung auf den ersten Blick. Knerten heisst der neue Freund, der auch gleich selbst spricht und denkt (wie umständlich, schwerfällig und witzlos wurde das gleiche Thema dagegen bei DER BIBER behandelt!).

Knerten begleitet Lillebroer nun auf sämtlichen Abenteuer- und Entdeckungsreisen durch die neue Umgebung.  Dank Freund Knerten ist alles viel mehr aufregend und interessant als beängstigend und einengend. Diese Reise mit Lillebroer und Knerten im Kino zu tun, macht umso mehr Spass, als die Geschichte konsequent auf Augenhöhe und aus der Sichtweise des Buben erzählt wird. Einem Erwachsenen mögen dabei so manche Erinnerungen kommen. Und das Kind ums Lillebroer-Alter herum, schätzungsweise bis zur ersten, zweiten Schulklasse, ich bin kein Pädagoge, dürfte sich von so einem Film sowieos voll und ganz verstanden und ernstgenommen fühlen.

Es kommen also vor: ein Vater, der erfolglos Unterwäsche verkauft, ein grosser Bruder, der schon gross ist, aber immer noch zur Schule gehen muss und den man beim ersten Kuss beobachten und in Verlegenheit bringen kann, eine Traumprinzessin im Wald,  hoch zu Pferd und begleitet von einem Knecht, zwei böse Mädchen, die Knerten frech stehlen, als den ihren betrachten  und in Frauenkleider stecken, ein Sakrileg ist das, ein grosser Autoreifen wird die Situation wieder bereinigen. Es kommt ferner vor ein wunderschöner Kastenwagen aus den 50er Jahren, in dem die Fensterrahmen noch aus Holz gearbeitet sind, ein alter Schreiner, der weiss, dass auch Holzstücke eine Seele haben, ein alter Kramladen, in dem Kindern der Zutritt verboten ist und der von einem skurrilen Junggesellen geführt wird, der in eine Spanierin verliebt ist und bei dem  Lillebroers Mutter arbeiten kann; Pfandflaschen, die Lillebroer gleich mehrfach zurückgeben kann, eine Tante Malhierundmalda, die Lillebroer pflegt, wenn er krank ist und gleich noch ein nettes Mädchen mitbringt; ein Kamel, das Cigaretten spendet (deshalb ist Rauchen Kacke) oder ein roter Sportwagen mit einer weiblichen Showgrösse drin, die dem Vater die farbigen Strümpfe, die auf dem Lande keiner will, abkauft und so einen Boom in Gang setzt und am Ende gibt’s noch eine wunderbares Fest.

Alles koscher! – The Infidel

Ein rundlicher, glatzköpfiger, fester Mann mittleren Alters mit prinzipiell grimmigem Blick ist die zentrale Figur in diesem Film, der die religiösen Vorurteile in der Tradition des jüdischen Witzes auf die Schippe nehmen will.

Mahmud, so heißt unsere Hauptfigur, er hat bereits einen herangewachsenen Sohn, der irgendwie nicht zu ihm passt, genau so wenig wie seine Frau, aber das ist vielleicht teil der vorgeblichen Komödienkunst, solche Besetzungen zu machen.

Sein Sohn jedenfalls will heiraten und zwar ausgerechnet die Tochter eines islamischen Hasspredigers. Außerdem ist dem Mahmud seine Mutter gestorben. Es gilt ihre Hinterlassenschaft zu ordnen. Dabei stößt Mahmud auf eine Urkunde, die belegt, dass er gar nicht das leibliche Kind seiner islamischen Eltern ist, sondern adoptiert wurde und sein wahrer Name ein jüdischer ist. Dem geht er nach und findet seinen leiblichen Vater in einem Spital.

Die Komödie, so wie sie gespielt und geschrieben ist, wird hier gut vorgetragen. Das Problem scheint mir aber ein grundsätzlicheres: einerseits, wen wollen die Macher damit erreichen, denn mit Filmen über Toleranz, resp. Intoleranz und Vorurteile möchte man etwas bewirken und garantiert nicht reine Kunst machen. Überhaupt scheint mir der Rahmen oder das Tablett, auf dem die Macher ihre Fähigkeit, diese Art Komödie zu inszenieren und zu spielen ganz gut präsentieren, sehr wacklig.

Was ich zum Beispiel überhaupt nicht nachvollziehen kann, dass Mahmud, kaum hat er erfahren, dass er Jude ist, gleich zum Judentum übertreten will, so ganz ohne jeden Konflikt, wobei er ein eher nachlässiger islamischer Gläubiger war. Ausgerechnet ihm gegenüber wohnt ein jüdischer Taxifahrer, der einen siebenarmigen Leuchter im Fenster stehen hat. Von diesem Nachbarn will sich Mahmud die jüdischen Bräuche und Rituale beibringen lassen, auch diese Lern-Szenen scheinen mir arg auf die Gunst des hoffentlich dankbar kapierenden Publikums hin spekuliert.

Das Problem mit dieser Art jüdischen Witzes, wie er ja weltberühmt wurde, seine Beschlagenheit und auch die Selbstverarsche, das ist, dass er seine Qualität und Stärke aus der Diaspora- und teils Ghetto-Existenz bezogen hat; daraus seine Schlagkraft, seine kreative Überzeugungskraft schöpfend. Heute ist dies so nicht mehr gegeben. Es gibt den Staat Israel, und wo Juden in der westlichen Welt leben, da sind sie in keinerlei Ghetto gezwungen. Es ist diesem jüdischen Humor und Witz ein gutes Stück weit der Boden entzogen. Insofern scheint dessen Anwendung wie in diesem Film praktiziert, doch arg museal, nicht auf die heute Lebenden gerichtet zu sein, wenn auch mit aktuellem Bezug ausgestattet.

Als aktualisierende Zurechtbiegung der Situation kommt zum Erlernen der äusseren Formalitäten des Judentums hinzu, dass der künftige Schwiegervater, also der Hassprediger, der von Vertrauten umgeben ist, deren einer ein Haken statt einer Hand hat, soll wohl lustig sein, dass also der Hassprediger, um die Tochter dem Sohn von Mahmud zu geben, diesen auch auf seine Religiosität hin prüfen will, ein Vorgang, der mir nicht so wichtig und plausibel erscheint, ohne den aber die Komödie jeglichen Grund verlöre.

Mahmud wird jetzt von der Regie zwischen der Welt des Judentums und der des Islam atemlos hin und her geschickt.  In der Hektik vergisst er einmal die Kippa unter seiner arabischen Kopfbedeckung.   Prompt nimmt er beim Empfang des Hasspredigers vor viel Publikum sein Araberkäppi ab und darunter kommt die Kippa zum Vorschein. Worauf er eine öffentliche Verbrennung derselben veranstaltet, die im Fernsehen zu sehen sein wird und auch auf Youtube verbreitet wird; für diesen Preis hat  er vorerst seine Haut gerettet. Aber da seine Doppelgläubigkeit nun offenbar ist, setzt dies eine Kettenreaktion an Komplikationen in Gang, wie sie allein insofern schon erwartbar ist, weil ihre Voraussetzung so deutlich konstruiert  worden ist: Trennung von der Familie, Heirat des Sohnes ausser Sichtweite, Versammlung mit dem Hassprediger, Mahmud unter Burka verkleidet, Entlarvung des Hasspredigers. Konstrukt. Konstrukt der Lustigkeit halber zur zwanghaften Erzeugung von sollkomischen Situationen. Wozu sonst der Film gemacht worden sein soll, wird aber nicht deutlich.

The Way Back – Der lange Weg

Peter Weir schlägt ein grosses Bilderbuch auf über die Flucht von sieben Gefangenen aus dem sibirischen Gulag während des zweiten Weltkrieges zu Fuss über die Mongolei, Tibet nach Indien.

Von sieben, die aufgebrochen sind, haben es drei bis Indien geschafft. Andere sind gestorben, einer ging Richtung China. Über ein Stück wurden sie von einer jungen Frau, Irina, begleitet, die zwei Versionen ihrer Leidensgeschichte erzählte. Sie war unter den Männer die Kommunikatorin, hat sie über ihre Geschichten und ihre Pläne befragt; den ersten Teil der Flucht hatten sie kaum Privates geredet, da ging es nur darum, wegzukommen aus dem Gulag und nirgendwo erwischt zu werden; die Hoffnung lag in der Mongolei, aber welche Enttäuschung, wie sie einen alleinstehenden Torbogen über einer Strasse fanden, auf welchem schon die Fotos der russischen Führungsfiguren angebracht waren.

Es liegt nahe, von einem grossformatigen Bilderbuch zu sprechen, das man nicht selber umblättern muss, weil das Stärkste an diesem Film scheinen mir die überwältigenden Bilder zu sein. Ob im Gulag die eindrücklichen Nahaufnahmen der Männer, einzeln oder in Gruppen, beim Arbeiten im Holz, im Bergwerk; bei den Verabredungen zur Flucht, beim Bunkern von Nahrung und dann bei Sturm der plötzliche Ausbruch in dem Moment, wo sie es schaffen, den Generator für 10 Minuten abzustellen; dann im Sturm im Wald und weg, weg. Die mächtigen Bilder werden gerade in dieser ersten Phase durch kräftige Musik und auch Lärm von Schnee, Sturm oder Bergwerksmaschinen noch stärker herausgestellt.

Detail zum Beispiel im Bergwerk, wie der eine sagt, das Joch unter dem sie schier zusammenbrechen, das hätten schon die alten Ägypter benutzt, er wisse das, denn er sei Professor für Ägyptologie.

Die ersten paar Minuten waren für mich gewöhnungsbedüftig, zu viele schlechte Filme über die Kriegszeit gibt es, die so staatstragend herausgestellt anfangen mit den Funduskostümen und den Studio-Gulag-Ausstattungen. Aber das war sozusagen eher der schlechte Geschmack, der noch mal aufstiess, bevor ich mich dann richtig, ja, zurücklehnen und diese Bilder betrachten konnte. Denn man muss hier nicht wie ein Kupferstecher aufpassen, dass man nichts verpasst.

Irgendwie bleiben die Männer untereinander jedoch seltsam beziehungslos, sie haben nur die Flucht im Kopf. Und wenn sie dann dies und das ihrer brüchigen Biographien preisgeben, besonders dank Irina, die am Baikalsee zu ihnen stösst, und der sie zuerst mit Misstrauen begegen, ändert sich nichts an ihrer Beziehungslosikgeit; sie sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen verschiedener Nationalitäten, so wie sie in den Gulag geworfen worden sind, so willkürlich gemixt. Einer kennt sich aus und weiss wie man in die Mongolei kommt, der kehrt dann auch zurück. Sie verbindet wie irgend eine andere Reisegesellschaft, dass sie diesen Weg machen wollen. Den ersten erwischt es noch im sibirischen Winter, der mit der Nachtblindheit findet aus dem Wald nicht mehr zurück und sitzt am Morgen erfroren ganz nah bei ihnen. Unter Steinen begraben sie ihn.

Es gibt Ansätze zur Charakterisierung der Figuren, Smith eiskalt, und man soll nie freundlich sein, das versucht er Janusz beizubringen. Dies geschieht diskret, sie machen sich nicht wichtig, es vermittelt sich eher aus beiläufigen Gesprächen, bei Aktivitäten im Gulag oder dann bei der Flucht, wenn sie sich in einem Unterstand eng aneinander schmiegen oder ein Feuer machen; es sind übrigens immer sehr schön fotogen arrrangierte Gruppenbilder; und nicht nur, wenn sie sitzen oder liegen; auch wenn sie gehen, das erinnert an eine Pilgergruppe, denn sie haben Stöcke dabei, die langen Pilgermäntel und die umgehängten Beutel und Kapuzen auf dem Kopf.

Im sibirschen Sturm haben sie, drum war ein Messer so wichtig, aus Baumrinde Gesichtsmasken rausgeschnitten gegen den eisigen Wind. Einmal hören sie Wölfe. Einmal vertreiben sie eine Meute Wölfe, wie die sich über ein gerissenes Tier hermachen und vertilgen das Fleisch dann selber.

Ein grosser epischer Bildbogen, der wohlosiert mit Details umgeht.

Wenn einer in der Wüste die Schlange tötet, wie sie das Fleisch auf einem heissen Stein braten, wie das Fleisch gekaut wird, da gibt’s ein Gespräch über den Unterschied zu Hühnerfleisch; einer, der Schlangenfleisch isst, holt aus seinem Mund plötzlich einen Kleintierschädel als ungenießbar heraus.

Es gibt Momente, da erinnern die Arrangements an einen Passionsfilm. Und in dem Augenblick, wo Irina da liegt, das ist in der Wüste in der Mongolei, in der Sandwüste, wo sie kaum mehr Wasser haben, und man denkt an die Madonna als Topos in der abendländischen Malereigeschichte und schon ist Irina begraben und mitten im Sand steht ein Holzkreuz, vermutlich aus einem ihrer jüngerhaften Pilgerstäbe notdürftig zusammengebunden, dran baumelt ein Amulett. Religiös anmutend. Das Leben als eine Pilgerreise.

In Tibet werden sie zuvorkommend begrüsst.

Es gibt sehr wenige Begegnungen mit anderen Menschen; eine Ortschaft am Baikalsee umgehen sie, aber wie sie unter Mücken leiden, geht einer von ihnen zu einem allein wandernden Mann und erhält von diesem ein Halsband als Mückenschutz; von da ab haben sie ihre Ruhe. In der Mongolei stürmt plötzlich eine wilde Reiterschar auf sie zu. Ihr Devise: nur lächeln, lächeln. Die fragen sie ob sie Pilger nach Tibet seien. Sie greifen die Idee dankend auf und bejahen. Die Mongolen, wilde Kerle machen kerhum und reiten davon. Kurz darauf finden sie einen jungen Reiter, der sie erwartet, der schmeißt ihnen eine Tierhaut gefüllt mit Wasser hin und sprengt in wildem Galopp davon.

Enen Eindruck möchte ich nicht unerwähnt lassen; sie pflegen sich zwar auch: aus einem toten Tier, das sie im Schlamm am Baikalsee gefunden haben, stellen sie Seife her, mit der sie sich dann waschen. Ab da haben sie immer saubere Klamotten und erwecken eher den Eindruck, auf einer Abenteuerreise zu sein, wo sie sich zu helfen wisssen müssen. Auch ihr Gang ist meist recht frisch und lässt die Monate, die sie hinter sich haben nur schwer vorstellen; wenn sie nicht gerade das schiere Verdursten spielen müssen.

Witzig ist es allemal, wenn ein halbes Dutzend Menschen durch endlose Sandwüste zieht und sie dabei anfangen von der leckeren Zubereitung und dem richtigen Würzen appetitlicher Speisen zu schwärmen.
Für Irina bastelt einer Fellschuhe.
Einmal in der Wüste gibt’s Fusspflege.

Am Brunnen, den sie in der Wüste finden, dank Vögeln, wo Vögel sind kann keine Fata Morgana sein, machen sie Duschspiele mit dem Wassersack aus dem Ziehbrunnen, da wirken sie ganz aufgekratzt und man vergisst, auf welch endloser Reise sie sind, auch wie existenziell die ist. Flucht hat in diesem Film sehr stark die Komponente des Abenteuers. Es gibt auch Stellen, wenn die ganze Gruppe mit grossem Abstand zwischen sich in einer Linie am Horizont marschiert, die an manche Bilder aus Wildwestfilmen erinnern. Das Flimmern der heissen Luft am Horizont und die Stille.
Und zum Brunnen rennen sie dann plötzlich wieder mit Kräften, auch das ist sehr schön choreografiert.

Das Problem für die Kinospannung scheint mir zu sein, dass Weir sich nicht für eine Hauptfigur entschieden hat, deren innere Geschichte er zeigen will. Dadurch kann man als Zuschauer zwar wunderbar zuschauen; man kann auch ruhig mal wegschauen, wegtreten, wegknacken, man verpasst da nicht viel. Das war dann so ein Gedanke, speziell anfangs, ob das nicht ein Kino sei, was doch sehr passee ist, eines was dem heutigen Menschen nicht unbedingt was zu erzählen hat. Eine Bilderwelt die sich an grossem vergangenem Kino orientiert. Kinobilder sind heute schneller und brauchen zur Herstellung nicht unbedingt den grossen Apparat, der mir hier vor allem anfangs aufgefallen ist, der bringt viel Statik und Monumentalität mit sich – Kino hätte heute mit der leichteren Technik viel mehr die Möglichkeit von den Menschen zu erzählen. Davor scheut Peter Weir offensichtlich zurück.

An der chinesischen Mauer, auch die haben sie gefunden, dröhnt das Orchester in voller Lautstärke. In Tibet gibt’s dann noch ein Gespräch über die Pläne der Männer.

Ab da geht alles sehr schnell. Nach Indien. Und dann zurück zur Rahmenhandlung und die Einbettung in die Weltgeschichte, verbandelt mit der polnischen Geschichte über den Darsteller Janusz.

Larry Crowne

Tom Hanks mit dem wattierten Gesicht arbeitet in einem Supermarkt. Typisch aufgestellter Amerikaner, der jeden Noch-so-Scheiss-Job begeistert tut. Er wird aufgerufen, in die Direktion zu kommen. Schnell werweißen Kollegen noch, was das bedeuten soll, vermutlich wird er Mitarbeiter des Monats. Diesen technischen Trick kennen wir inzwischen: die Erwartung hochschrauben, um sie sogleich platzen zu lassen. Er wird nicht Mitarbeiter des Monats, sondern entlassen. Das darf hier ruhig verraten werden, da es vollkommen absehbar inszeniert ist.

Larry Crowne, der Name passt so gar nicht zu der Figur, die wir bis jetzt kennen gelernt haben; er scheint nach dem Rezept zusammengebrainstormt, wie schaffe ich einen bestsellerhaft klingenden Namen für einen Kinoerfolg und wenn man den Lauten nachhört, kommen Assoziationen, die alle viel zu hochgeschraubte Erwartungen wecken.

Die Begründung für den Rausschmiss von Crowne lautet, die Firma möchte, dass sich ihre Mitrbeiter entwickeln, er hätte aber in den Jahren, die er hier gearbeitet hat, keine Schulungen gemacht oder Titel erworben und so würden sich nun ihre Wege trennen. Ein schönes Echo auf diese Szene kommt gegen Schluss des Filmes, wenn Crowne eine Pizza bestellt und der Fahrer einer jener Mitarbeiter ist, die bei seinem Entlassungstermin grinsend dabei waren und mit ihren Weiterbildungen geprotzt haben.

Hanks spielt diese von ihm geschriebene und auch regielich betreute Hauptrolle selbst. Für mich ist das eine eher provinzielle Erscheinung, wenn erfolgreiche Schauspieler anfangen, sich selbst ihre Hauptrollen zu schreiben und zu inszenieren, das können nur die wenigsten brilliant. Hanks würde ich nicht dazu zählen, hier würde ich vielleicht von biederem, gut gemeintem Handwerk sprechen. Immerhin das.

Larry befindet sich also früh im Film in einer unkomfortablen Lage da. Das ist für dieses und viele ähnliche Movies eine an sich solide dramaturgische Ausgangspostion. Denn es gibt Schwierigkeiten zu bewältigen. Larry kann seine Hypotheken nicht mehr bedienen und Miss Gammelgard von der Bank macht ihm klar, dass sein Haus weniger wert ist, als die Schulden, die darauf lasten (das ist ein brennendes amerikanisches Thema) und dass er anfangen müsse, Besitz abzustossen.

Das ergibt die Brücke zu seinem Nachbarn, dem Trödler, der immer viel zu hohe Preise verlangt. Auch diese Figur kommt einem vor wie aus einem abgestandenen Fundus von Filmversatzstücken. Film wie ein Kinderspiel, wie mit Bauklötzchen, man nimmt sich eine Anzahl davon und baut sich dann sein Filmchen zusammen.

Nach diversen Abfuhren auf Jobbewerbungen hin – eine selbstverständliche Prise Sozialkritik muss sein, die erfolgreichen Schauspieler haben ein Herz für die Arbeitslosen – besinnt Hanks sich endlich auf seine Bildungsmängel und will ein College besuchen. Inzwischen hat er sein Auto verkauft, fährt Roller. Gleich beim Parken vorm College trifft er Thalia, eine junge schwarze Schönheit, die auf den Roller abfährt.

Jetzt müssen, wie es sich gehört, Szenen aus dem College folgen. Vor allem solche mit Julia Roberts mit den wunderschön breiten Lippen. Und noch welche mit einem Chinesen. Der Film überfordert garantiert keinen Zuschauer.

Frau Roberts, die Lehrerin, darf mehrfach darauf hinweisen, dass sie Miss Tainot mit ai sei. Das ist wichtig.

Damit jeder mitkommt, wird während des ganzen Filmes immer schön abgesetzt gesprochen. Ein Drehbuchsatz nach dem anderen. Damit keine kostbaren Gedanken des Autors Hanks verloren gehen. Aber was waren sie noch, diese kostbaren Gedanken, ah ja, richtig, der Chinese, Ed Matsutani wie Economy, der bringt das als Witz, über den er sich selbst jedes Mal kringelig lacht. Vielleicht hatte Hanks einst einen solchen Lehrer.

Sehr seriöses Kino ist das, also es gibt sich sehr seriös, dürfte dadurch aber beweisen, dass es Seriositäts-Beweisbedarf hat, weil es nämlich alles andere als seriös ist, weil es nur ein Zusammengeclustere ist von dem, was ein Schauspieler kennen gelernt hat und was er an einfachem Niveau immer schon mal wollte.

Oder es erinnert einen an Sketche, wie wir sie früher für den Familienabend bei der Jugendgruppe eingeübt hatten. Dort wars ja noch lustig, weils einmalig war und getragen von der laienhaften Begeisterung. Davon ist hier nicht viel zu spüren. Das könnte ja eine eventuell aufregende Message werden, ein Schauspieler möchte mit dem eigenen Film beweisen, dass er wieder zu den Ursprüngen zurück, zur Lebendigkeit und Leichtigkeit von Kino weg von der Routine der Grossproduktionen finden möchte. Statt dessen: Solides Schauspielerkino, cineastisch unergiebig.

Brownian Movement

Ein Film als Triptichon, nicht von der Jungfrau Maria aber von Sandra Hüller, oft hüllenlos, als Charlotte. Die einzelnen Teile des Triptichons sind ganz einfach überschriftet als Part 1, Part 2, Part 3.

Part 1. Schnauftöne noch ohne Bild. Ausdauerndes Standbild in eine möblierte, aber unbewohnte Wohnung hinein. Wohnungsbesichtigung durch Charlotte (von der wir aber noch nicht wissen, dass sie Charlotte ist); also durch Frau Hüller. Offton Vermieterin: Sie ist ziemlich gross, die Matratze ist neu und dies ist das Badezimmer. Frau Hüller zählt Geldscheine, viele, viele 50er, 100er. Sie gibt sie der Vermieterin, die im Anschnitt ihr gegenüber zu sehen ist; dann zählt diese das Geld nochmal. Sie fängt mit den Hundertern an. Woher kommen Sie, fragt die Vermieterin. Frau Hüller antwortet: Berlin. Autohupe im Hintergrund. Frau Hüller duscht im Off. Sie steigt aus der Dusche, nackt, kommt mit dem Rücken vor die Kamera zu stehen, legt sich ein Badetuch unter den Schultern um. Ortswechsel. Kinder duschen in einer Gemeinschaftsdusche in einem Schwimmbad. Frau Hüller steht, angezogen, auf einer Empore des Bades, schaut mit verschlossenem Mund. Frau Hüller am Bettrand ihres Sohnes Benjamin, sie liest ihm eine Gutenachtgeschichte vor.

Stationen eines Frauenlebens.

Beim Frühstück lernen wir Max, ihren Mann, kennen. Dann sitzt sie im Labor am Computer mit weissem Kittel, weiss, bleich, blond, streng frisiertes Haar. Bett, Frau Hüller nackt, neben ihr haariger Männerrücken, sehr haarig. Sie streichelt darüber. Badewanne. Dozieren vor Studenten. Lachanfall wegen eines Klingeltones, wie aus der Rolle fallend, dass es so einen Klingelton gebe. Streicheln einer Sessellehne in geblümtem Morgenmantel. Krankenstation, weisse Vorhänge zwischen den Betten. Einblick: haariger Mann. Einem muss der Blutdruck gemessen werden, einem Bärtigen mit Glatze. Das übernimmt sie. Dann sind die beiden bei ihr in der gemieteten Wohnung. Frau und Haptik. Frau und Berührungen. Frau und Haut. Frau und Männerhaare. Bei ihm entwickelt sich die Erotik über das Riechen an ihrem Atem. Im Stehen fasst er sie unten an. Dann liegt sie nackt auf dem Bett. Er ist über sie gebeugt. Fingert sie. Dann streicht er mit dem feuchten Finger über ihre Augendeckel, später über Nase und Mund. Erotik. Jetzt sitzt er angezogen und wie belämmert auf dem Sofa. Sie putzt die Zähne.

Stationen eines Frauenlebens. Zwischen Familie, Beruf und haarigen, bärtigen Männern, die sie in ihrer separat angemieteten Wohnung empfängt. Lust scheint sie nie zu empfinden. Es kommt eher rüber, nun wie was, wie ein Experiment? Wie ein Bedürfnis. Vielleicht versucht sie zu erforschen, ob sie Lust empfindet, bei Männern egal welchen Alters, Hauptsache Seitensprungmänner.

Stationen eines weiblichen Leidensweges. Stationen eines weiblichen Lebens zwischen Beruf, Familie und haarigen Männern.

Max, ihr Mann, arbeitet auf dem Bau. Einmal besucht sie ihn. Dann schaut sie sich den Bau selbständig an. Sie trifft auf einen, der am unfertigen Boden arbeitet, es ist der mit der Blutdruckmessung. Sie schreit hysterisch. Sie schlägt ihn. Sie nähert sich ihm wie zärtlich und langt ihm eine mit einem gezielten Haken.

Part 2. Besprechungen bei der Psychiatrin. Erst mit ihr allein. Dann Paartherapie. Sie versucht zu erklären, warum sie das mit den Männern gemacht habe. Der Raum der Psychiatrin ist grosszügig, ein halbrunder Saal mit sehr hohen, schmalen Fenstern; mittendrin sitzt Frau Hüller der Psychiatrin gegenüber. Wie dann Max auch dabei ist, versucht sie in einem abgehackten Monolog aus ihrer vermutlich gestörten Innenwelt zu berichten, hört dann aber auf. Max und Charlotte sitzen nebeneinander. Dann ist sie allein. Ende Part 2.

Part 3 spielt in Indien, wo Max herkommt. In grosszügigem Haus. Inzwischen sind zwei kleine Kinder dazugekommen zu Benjamin. Einer der Kleinen heisst Simon. Hier führt Charlotte ein eher gelangweiltes häusliches Leben. Sie kauft Stoff. Fängt an zu nähen. Eine andere Frau will das für sie machen. Sie wehrt ab, so habe sie wenigstens was zu tun. Sie macht Ausflüge in die Stadt. Geht oft zu einer leeren Baustelle. Sitzt allein da. Max kommt dahinter. Sein Misstrauen wächst. Das ist gut zu sehen. Oder sie sitzt auf der Veranda unterm Dach bei Regen. Sie fährt mit einem Minigefährt mit Fahrer in die Stadt. Zwei Diener öffnen bei der Rückkehr das Tor. Mit den Kindern sieht man sie kaum. Der Leidensweg in seiner dritten Station. Aber sie geht nicht mehr fremd. Einmal geht Max ihr nach. Er ist sonst mit seinen Bauten beschäftigt. Er sieht, wie sie sich in dem Neubau in eine Ecke setzt. In diesem dritten Teil lässt die Regisseurin die beiden bei einer langen Autofahrt in die Wüste in sehr langen Einstellungen innere Monologe halten, wie in einer Ehe, in der man sich nichts mehr zu sagen hat.

Film als Anlass zu Meditation.

Vier Leben

Also ob die Zeit stillsteht. Als ob die Zeit stehen geblieben ist. Gegenwelt zu IT und Atommeilern. Der Film endet in der letzten Phase mit einem Kohlemeiler, den die Dorfmänner mit Holz bauen und dann zum Kokeln bringen. Ländliche Idylle und moderne Wirtschaft. Sehnsucht nach Einfachheit. Vielleicht könnte man von einer philosophisch-cineastischen Spielerei oder Versuchsanordnung sprechen.

Die erste Geschichte ist die vom alten Ziegenhirten. Schon hier wie in allen folgenden Geschichten sind viele Einstellungen, die ruhig beobachtend von einer Position ausgehen, sich aber auch mal drehen können, wie eine Live-Cam. Am häufigsten bei den Szenen am Platz mit dem Ziegenpferch am Eingang zur Ortschaft unterhalb der Häuser, wo sehr früh der Pfarrer ein Kopftuch in alle Himmelsrichtungen segnet.

Der alte Hirt hütet die Ziegen in der wunderbaren Hügellandschaft Apuliens.  Jean-Marie-Straub hätte in diese pastorale Gegend  die Einwohner und Laien hineingestellt und Pavese oder Dante sprechen lassen. Michelangelo Frammartino interessieren zum Beispiel die  Ameisen auf Holzborke, die  im Kino ganz gross werden können. Oder wie der Hirt Weinbergschnecken sammelt. Meditativer Film über einen Zeitstillstand. Der Hirt kehrt zurück ins Dorf.

Am Dorfplatz tut sich was, das berichtet uns die Live-Cam. Es ist früh, die Ziegen sind im Pferch. Ein roter, landwirtschaftlicher Klein-Transporter fährt vor. Diesem entsteigen zwei Männer mit Umhängen wie die alten Römer, sie gehen zum Dorf hinauf. Im roten Transporter wurden auch Säcke gebracht, die dann im Dorf verteilt werden. Es ist Kohle. Die „Römer“ kommen jetzt mit viel Volk wieder vom Dorf  runter, treiben einen Hund vor sich her.  Es ist eine Kreuzigungsprozession, die an der Kamera vorbei zieht in Richtung eines Hügels weit vor der Ortschaft, wo schon zwei Kreuze stehen.

Weiter ist in dieser einzigen Einstellung, die schon Minuten gedauert hat und ohne Zwischenschnitt ausgekommen ist, zu sehen, wie der Hund, der vorher  ins Gebüsch gejagt wurde, nach Vorbeiziehen der Prozession zurückrennt zum Dorfplatz, den Feststellkeil unter dem Rad des Transporters löst. Das ist nur mit präpariertem Trick möglich, dass sich der Transporter augenblicklich aus seiner Position löst und anfängt rückwärts zu rollen und directement auf den Ziegenpferch auf der anderen Strassenseite zu.  Den Aufprall sieht man nicht, da kann also auch was vorbereitet gewesen sein, denn die Kamera schwenkt  zurück zur Kreuzigungsprozession, die inzwischen auf dem Hügel weit hinten angekommen ist,  und gleich dreht sie wieder zurück zum spitzbübischen Hund, der bellt eine Nachläuferin der Prozession an und dann kommt ein anderes Gefährt und inzwischen sind die Ziegen ausgebrochen und der Hund treibt sie aufwärts ins Dorf. Man müsste hier vielleicht von der komplizierten Kunst einer Doku-Inszenierung sprechen.

Der alte Mann liegt inzwischen auf seinem Bett, schnauft tief, die Ziegen strömen in die Wohnung über steile Treppen hoch, eine, zwei stehen auf dem Tisch, und schon wird der Sarg mit dem alten Mann die steile Treppe runtergetragen und die Platzkamera sieht den Trauerzug, der geht an ihr vorbei und schwenkt dann nach links hinten und schon wird der Sarg in die Nische geschoben, ganz oben unter der Decke; die Kamera lässt sich auch einmauern, Deckel zu, dunkel, noch so was wie Herzschlag. Dunkel. Überblendung.  Ein Lärm. Die junge Ziege kommt auf die Welt. Auch das in einer langen Einstellung und dann in Zeitabständen, bis sie stehen und gehen kann.

Nach der Ziegengeburt entspannt sich die Kamera an einem bizarren Wolkengebilde. Angenehm übrigens, dass im ganzen Film nur Originallaute vorkommen. Die Ziegenglöcklein als heftiges Signal, mal die Kirchenglocken. Auch Menschenstimmen, aber meist aussserhalb der Verständlichkeit. .

Die Live-Cam bleibt ellenlang im Ziegenstall bei den kleinen Zieglein, die einzige weiße, die braunen, die schwarzen, die spielen mit dem Besen, Dann kommen die alten Ziegen nach Hause, getrieben jetzt von jüngeren Hütern, aber auch nicht mehr ganz jung. Wie die Ziegen das nächste Mal rausgetrieben werden durch die engen Gassen, diesmal sind die Kleinen dabei, und tun sich noch schwer mit den Stufen, und in einer engen Gasse mit einer hohen Mauer auf einer Seite, da springen einige vorwitzige Ziegen in die Höhe zum Kräuter schleckern. In der Landschaft draussen, Inszenierung mit Ziegen:  die kleine weisse Ziege bleibt in einem Graben hängen, le chevre de M. Seguin kommt einem in den Sinn, bleibt allein zurück, während die Herde enteilt. Viele Szenen mit diesem  einzelnen Zicklein folgen, ein Zicklein-Zyklus.

Es ist Winter. Ein einsamer Baum, eine grosse Tanne, mit den Hügeln im Hintergrund. Schnitt.  Sommer..Ameise auf Holzrindenstück. Tannenzapfen blühen. Stimmen irgendwo. Bienensummen. Motorsäge. Die Tanne kippt. Plötzlich zieht ein Haufen aufgekratzter Menschen den geschälten Holzstamm auf einem Platz am Ortsrand, die Tanne hat noch den Wipfel, drauf sind Pakete gepackt und ein Luftballon. Der Baum wird aufgestellt. Später klettert einer dran hoch. Und schon wird die Tanne schon wieder gekippt. Es gibt keine Leitfigur ausser der Tanne. Die Ziegen sind verschwunden. Wie der Baum wieder zu Boden gezogen wird, stürzten sich alle Leute auf die Äste des Wipfels, holen sich kleine Tannenzweige. Dann wird der Stamm zerlegt. Auf dem roten Gefährt weggefahren, dahin, wo früher schon Räuchlein zu sehen gewesen sind. Jetzt wird der Köhlerhaufen aufgebaut mit vielen kleinen Ästen erst rundum, dann wird eine Art Plane, wie um einen Zirkus oder zur Sichtabdeckuntg einer  Baustelle drum gezogen, Erde und Stroh drauf und das Ganze angezündet. Heimatkundlicher Unterricht.

Dunkle Wolken über den Bergen.

Der Meiler wird abgebaut, es kokelt noch das Holz. Es kommt in grobe offene Jutesäcke. Ladefläche des roten Gefährts wird gefüllt. Ein Mann bringt einen dieser Säcke von der Ladefläche zu einer Haustür.

Ein meditativer Film über die Natur, das Sein, das Werden, abseits der hochtechnologisierten Welt. Man sieht aber auch, wie aufwendig hier die Gewinnung sogenannter alternativer Energie ist. Es ist eine Art Webcam-Kino mit recht raffiniert inszenierten Szenen, die alle ganz natürlich ausschauen. In dem Dorf ist immer was los. Wenns eine Webcam wäre, dann könnte man im Jahr drauf zu einer ähnlichen Zeit wieder reinschauen oder gleich wenn man aus dem Kino nach Hause kommt.

Eine Kamera, die vorgibt in der Art eine Web-Cam, naturwüchsiges Sein zu erwischen.

Bleak Night (Filmfest MÜnchen)

Was mich an diesem Film über das Erwachsenwerden, über die Phase des Übergangs von den flirrenden Ungewissenheiten und Ahnungen und Hoffnungen und Erwartungen kurz bevor man den Landeplatz für das Erwachsenenleben ansteuert, dass diese ganzen Gefühle, die einerseits von einer unglaublichen Zärtlichkeit sein können andererseits von tödlicher Verletzungskraft, dass das hier alles in sehr ruhigem und irgendwie doch sehr reifem Gesprächston abgehandelt wird.

Das verleiht diesem Film eine ganz ungewöhnliche Kraft und einen starken Reiz. Er vermeidet genau das, was der auch am Filmfest gezeigte deutsche Film TABU über Georg Trakl, auch wenn dort das Thema anders gelagert ist, kinotodsündenhaft tut: möglichst alles Tabuisierte zu zeigen.

Dabei geht es hier in diesem Film nicht unbedingt um ein Tabu. Aber es geht um die Grenze zwischen Aussprechbarem und den Gefühlen, der verletzenden und den sehr verletzlichen. Weil diese Menschen in jener Übergangszeit sind, in der der Mensch für eine eventuelle lebenslange Intimbeziehung, was auch einem lebenslang Halt entspricht, so offen ist, wie nie mehr sonst. Die Jugendfreundschaft als Übergangsunterkunft zwischen dem Zuhause, in dem der Mensch aufgewachsen ist und dem Zuhause, das er gründen wird.

Ein Problem, das ich auch beim japanischen Confessions hatte und sowieso immer mal wieder mit Filmen aus Asien: das ist die für einen Europäer doch nicht immer leichte Unterscheidung der einzelnen Charaktere und Physiognomien und dann auch noch die Zuordnung der Namen. Welcher war nun Ki-tae, Hee-june und welcher Dong-yoon aus dem Protagonisten-Trio?

Wobei der Faden, an dem das Thema aufgedröselt wird, der Tod des einen der Dreien ist. Zur Unterscheidungsschwierigkeit mit den Figuren tragen hier nicht nur die Schuluniformen und die ähnlichen Haare und Frisuren bei, Yoon Sung-hyun, der bemerkenswerte Nachwuchsregisseur, schneidet noch verschiedene Zeitebenen ineinander, nämlich die von der Collegezeit in Schuluniform und der Studienzeit in Privatklamotten.

Die junge Phase als College-Kids, die wird unruhig mit immer fahrig suchender Kamera gefilmt, also ob sie selbst so ein Junge sei.
Eine einzige junge Frau kommt vor. Die hat aber einen entscheidende Funktion. Dabei geht es um das alte Thema der Einmaligkeit der Liebe. Sie scheint rein. Andere erzählen dem Verliebten, der an die Einzigartigkeit seiner Liebe glaubt, anderes; das wäre kein guter Start in eine Leben zu zweit. Eine ziemliche Verletzung, sowas zu hören.

Themen, die in Gedankenkreisen angenähert werden sind die Einmaligkeit des Individuums und auch die Unverträglicihkeit mit anderen Individuen. Die jungen Männer sind Träger der Gedanken, die ihre Situation und die gefühlsmässigen Verwicklungen zu beschreiben versuchen. Es geht in diesem Alter immer um den Zwiespalt: zwischen der für unzerstörbar geglaubten Jugendfreundschaft, die man für immer fortwähren lassen möchte und um die Erfüllung des eigenen Lebens, Gründung einer Familie, Beruf, alles Dinge, die die zarten träumerischen Jugendfreundschaften, die unverbrüchlichen, im Normalfall gefährden. Das kann zur Folge haben, dass zwei so junge Gestirne sich nicht mehr zu sehr nähern dürfen, dass der eine das Collage wechseln muss. Weil er zu eingebildet gewesen sei, heisst es dann später. Weil er sich offensichtlich für zu einmalig gehalten habe. Understanding and Misunderstanding.

Mir erscheint in diesem Film die Jugend auch als ein Gefängnis aus Ritualen, in die sie eingesperrt ist. Unverbrüchlichkeit einerseits, Unverträglichkeit andererseits.
Lebenserwartungsgespräche und der Tod.

Mich beeindruckt, dass die Darsteller alle als sehr intelligent dargestellt werden, von den Texten, vom Duktus der Figurführung her. Wie ein Versuch, die Problematik in chemischer Reinform herauszukristallisieren.

We should grow up, Schesche.

Film Socialisme (Filmfest München)

Manuel de Oliveria hat vor einigen Jahren eine philosophische Kreuzfahrt unternommen mit Gedanken zu Europa. Diesmal sticht Godard in See. Er radart auf einem älteren Luxusliner den panmittelmeerisch-europäischen Kultur- und Geschichts-Raum im Zeitfächer vor allem der jüngeren Geschichte ab. Dazu montiert er jede Menge Footage aus der Filmgeschichte, aus Philosophie, Dichtung und Musik. Wie immer liebt Godard Texttafeln dazwischend, diesmal geht es meist um Dinge, Dinge, des Choses, Solche Dinge, Ebensolche Dinge. „No Comment“ ist die letzte Tafel, da schliesst sich schon der Kinovorhang.

Auf einem Kreuzfahrtschiff haben alle einen Grund, ein Motiv für die Fahrt. Alle sind in einen Zusammenhang eingebunden. Der Zusammenhang ist der Weltkrieg, ist Gold aus Spanien, ist Palästina. Eine Kreuzfahrt ist eine zu bewältigende Sache. Darum sind die Leute alle irgendwie angespannt. Das Meer rauscht vorbei. Godard liebt es auch, die Geräusche von Motoren oder Fahrtwind zu montieren, und zwar alles andere als naturalistisch, vielmehr mit Brüchen in der Sound-Continuity und auch mit Bearbeitung, Verstärkung, Verfremdung des Soundmaterials in Richtung weniger angenehmer Effekte als des dumpfen Gleichklangs einer Schiffsmaschine. Es hört sich dann an wie ein Mikor im Wind ohne Schutz.

Die Passagiere haben viel Zeit, sich gemäss Godards Radarsystem über alles zu unterhalten, was vielleicht ein, ja man muss es von ihm geradezu erwarten: ein heutiges Gesamtbewusstsein über dem Mittelmeer- und Europaraum mit seiner Geschichte der letzten Jahrzehnte, ja der letzten Jahrtausende, auch die Kreuzzüge werden erwähnt, herausgebildet hat, heraugebildet haben könnte.

Überraschend, wie stark ihn immer noch der zweite Weltkrieg beschäftigt, für wie virulent er ihn noch hält. Bevor wir alles vergessen. Oder: überraschend vielleicht eher, wie stark wir Zeitgenossen den schon vergessen haben. Er montiert das Material aber alles andere denn als eine Mahnung. Er sichtet und sieht und montiert.

Es gibt geographische Zwischentitel; eine Kreuzfahrt, die braucht Anlaufstellen: Aegypten, Palästina, Odessa, Hell As, war da was mit Griechenland? Napoli. Hat Griechenland nicht gerade gestern Europa vor dem Untergang bewahrt? Baute Europa viel mehr nicht immer schon auf Hellas? Demokratie und Tragödie wird Godard im dritten Teil dieses Filmes in Verbindung bringen.

Und immer wieder die Frage, wieviel vom spanischen Gold auf seiner Reise bis Odessa schon verschwunden sei. Godard beschäftigt aber auch, dass Hollywood von lauter Juden gegründet worden sei. Er zählt ihre Namen auf. QUO VADIS EUROPA fragt sich Godard. Er reflektiert über das mütterliche Blut und den Hass.

Vielleicht ist er dann seekrank geworden Oder sehkrank vor lauter leicht fibrierender Kamera? und ihm ist eine andere Variante seiner Art des Filmemachens in den Sinn gekommen. Er ist immer gerne in Industriebetriebe gegangen. Das Kino sollte ja die Welt verändern, sollte eingreifen in die Ungerechtigkeiten an den Arbeitsplätzen. Sollte diese auf die Leinwand bringen und damit ins Bewusstsein.

Hier ist es eine Garage J. J. Martin. Ein Filmteam ist mit Kamera zugange. Der kleine Sprössling der Garage, der Blondschopf ist ein kommendes europäisches Kulturtalent, er tut zu klassischer europäischer Musik schattendirigieren. Er ist umgeben von einem Lama und einem Esel. Aber zeichnen kann er bereits wie Renoir. Will heißen, er kopiert ihn. Das benutzt Godard in der Postproduktion wiederum für fantastische kulturverzerrende Farbeffekte

Die junge Frau von der Tankstelle steht zwischen den Zapfsäulen und liest Balzac. Sie lässt isch nicht gerne stören. Sie hat ein Programm: sie will 20 Jahre alt sein und sie will immer recht haben. Eine andere Frau, eine Intellektuelle oder Sekretärin?, Autorin vielleicht oder nur Verwalterin und Sammlerin von Texten?, steht an einer Mauer, macht Notizen, hört Anleitungen oder einfach Worte oder Sätze aus dem Off. Auf der Wand hinter ihr dreht sich der Schatten eines Windrades, Schattenwirbel um einen europäischen Kopf, einen Kulturkopf, einen Kulturverwalterkopf.

Wie immer bei Godard geht es auch ums Wirtschaften im Betrieb, dass er allen, die da arbeiten, gehören müsse. Armes Europa, liest Balzac und dann das.

Das Mittelmeer, das Mittelmeer; Godard lässt ab von der Tankstelle; die Seereise ist noch nicht erledigt. Hellas, die Demokratie und die Tragödie stösst ihm auf. Ob sich da je was machen lässt. Eine Uhr kommt ins Spiel, die goldene Uhr, die ein Junge im ersten Teil geklaut hatte und wie er über die Decks hochjagte und der Verfolger dann hinfiel; sie zeigt keine Zeit an,. sie stammt aus den Pharaonen-Gräbern, sie zeigt die graue Vorzeit, die Nacht der Zeiten an.

Auch wenn Godard an der Zeit leiden mag, an den Verhältnissen, mir scheint, er habe sich darin auch ein bisschen eingerichtet. Denn ob seine Message deutlich genug ist, ob sie sich nicht gewaltig versteckt hinter dem Wust an Footage, den er mit unendlichem Fleiss und Geschmack sichtet, auswählt und montiert, ob seine Message nicht immer nur undeutlicher wird und er vielleicht gar nicht versteht, warum das keiner mehr verstehen will oder kann. Würde mich echt mal interessieren, was er glaubt, mit solchen Filmen noch zu verändern. Oder geht er mehr auf einer akademischen Ebene um die Frage des Umganges mit Filmmaterial, der Grob- und Feinsortierung im Kopf? Je ne sais pas.

Die Einsamkeit der Primzahlen (Filmfest München)

Wie ein Improvisation zu den Bewusstseinszuständen früh verletzter Menschen, die zu kompliziert Liebenden werden, kommt mir dieser Film von Saverio Costanzo vor. Vielleicht ist es auch ein filmischer Versuch, wie das Gedächtnis, die Erinnerung in solchen Fällen arbeiten mögen. So kann ich mir jedenfalls die Bildbearbeitung erklären, die oft einen sehr impressionistischen Eindruck macht, die sehr mit Licht und dessen Auflösung in Partikel spielt oder mit der Auflösung fast alles Erkennbaren im Licht, im Dunst.

Es geht um die Liebe, das Verhältnis zwischen Alice, der Hinkenden mit der Narbe am linken Oberschenkel, wundervoll gespielt von Alba Rohrwacher und Mattia, der im zarten Alter von acht Jahren sein Zwillingsschwesterchen aus Wurstigkeit heraus am Rummel allein gelassen hat und die dann verschwunden ist. Die Erinnerung wird an dieser Stelle wie im Regen ertränkt. Auch akustisch wird der Regen mit spontan improvisiert wirkender Musik verstärkt, wie der achtjährige Mattia von der Geburtstagsparty zurückkommt, zu der er ein in einem grossem Paket verpacktes Puzzle mitgebracht hat und zu der er das Schwesterchen nicht mitnehmen wollte.

Auf dem Kindergeburtstag gibts eine Szene mit einem Clown. Erzählt wird die Rotkäppchen-Geschichte. Nach dieser Szene steht der Junge im Regen in der Helligkeit vor einer langen Tunnelröhre.

Alice hat übrigens mitten in einer Schulaufführung, bei der die Kinder zauberhafte Figuren spielen, einen Schreianfall, ein Phänomen, was bei ihr öfter auftritt.

Die Verletzung von Alice ist beim Skifahren passiert. Der familiäre Aufenthalt in den Bergen im feinen Appartement wird ausgiebig geschildert, fantastische Aufnahmen der verschneiten Gegend und des Bergpanoramas betten ihn in einen grandiosen Rahmen. Der wird kontrastiert durch einen immer wieder zu sehenden verloren wirkenden Hotelflur. Die Erinnerung an die Abfahrt, an die Gondelfahrt geht zusehends im Nebel verloren. Dazwischen sitzt das Mädchen wie eine Prinzessin in einem Riesenbett und schaut ein grausames Comic-Kindermärchen am TV. Zuerst wird am Hof ein Dieb gefangen. Der soll hart bestraft werden. Eine Frau erbarmt sich und bittet den König, den Jungen zu verschonen, er habe nur Hunger gehabt. Also lässt der König den Jungen laufen und wie er sich entfernt, erschiesst er ihn von hinten; darauf möchte die kleine Alice nicht mehr raus in den Schnee.

Die Erlebniss der beiden Kinder, das war 1985.

Schnitt zu 1991. Jetzt gehen sie in die höhere Schule, sind in dem Alter erster Paarungen, der aufgeregten Erwartung der ersten Küsse, der ersten Dates; aber Alica hinkt und wird von ihren Mitschülerinnen verlacht. Dann begegnen sie sich, sie mit ihren Freundinnen kommt dem Mattia mit einem Kumpel entgegen; sie fasziniert ihn sofort wegen ihres Defektes – er selbst entwickelt in der Zeit immer stärker den Hang zu Selbstverstümmelungen, Glasscherben in der Hand zerdrücken – später, wenn man ihn dann fettgefressen sieht mit seinem wissenschaftlichen Job in Jena und ersten Auszeichnungen ist sein Körper voller Narben.

Die Mädchen wollen also die Jungs zur Party einladen. Mattia will erst nicht, aber er frägt Alice schon bald, warum sie hinke. Zuerst sagt er ab. Dann sagt er doch zu. Weil sie ihn zuhause blöd anmachen, er habe ja keine Freunde. So reagiert er trotzig, doch er habe welche und er werde zur Party gehen. Auch dieser Discoabend wird im Discolärm, resp. in der Erinnerung an den Discolärm ertränkt; die Lichtgestaltung versucht auf die Effekte mit der Lichtkugel noch einen drauf zu setzen. So dass Alice und Mattia auf ihre Bitte hin sich in ein Zimmer weiter oben begeben und sie frägt relativ direkt, ob sie küssen sollen. Er weicht aus.

Das war 1991.

Es kommt 2001. Mattia geht zum Studieren nach Jena. Komisch, die Phase fällt mir im Moment schlecht ein. Jedenfalls ist der Mattia dieses Alters sehr dünn, während Alice gut füllig ist. Alice ist inzwischen Fotografin geworden. Man sieht sie oft in ihrem Clo, was auch ihr Fotolabor ist. Alles in Rot. Sie wird zur Hochzeit einer Freundin eingeladen und will unbedingt, dass Mattia ihr Begleiter sein wird. Er wird ihr sagen, dass er nach Jena zum Studieren geht. Es kommt zu vielen Erinnerungen und Gesprächen.

Gegen Ende des Filmes haben Alice und Mattia den Kontakt zu einander verloren. Es ist sechs Jahre später. Mattia ist jetzt richtig fett geworden, man sieht ihn Toilette machen. Er nimmt einen wissenschaftlichen Preis entgegen.

Alice ruft seine Eltern an, lässt sich die Adresse geben, schreibt ihm, er solle sofort kommen. Sie ist total abgemagert, martert sich, bricht leicht zusammen, ist geschieden, sie war mit einem Fabio verheiratet, sie will Mattia sehen; schon sitzt er im Flieger, denn auch er ist allein geblieben.. Er klingelt bei ihr. Sie liegt gekrümmt und nackt auf dem Bett. Sie geht zur Tür. Ah, er ists. Moment. Jetzt legt sie ein Kabinettstück in schnellem Anziehen hin, trotz Entkräftung und Cigarette im Mund hin, bis sie ihn in einem ganz knappen Rock empfängt. Ob sie ihm was zu essen machen soll. Derweil sitzt er gedankenverloren im Salon. Nachher geht er. Setzt sich auf eine Bank in der Nähe. Sie kommt dann dazu. Sie beugt ihren Kopf hinter ihm stehend über die Schulter auf die Brust. Damit endet das Bild im Film. Der Ton geht noch weiter. Man hört Schritte sich entfernen.

Ein komplexer Film, auch durch die ständigen Ineinanderschnitte der verschiedenen Zeitebenen, der sehr bewusst macht, wie die gefährliche Erinnerung nicht abzuwehren ist. Ja fast sieht es so aus, als könnten sich diese Menschen gar nicht gegen ihre Erinnerung wehren, selbst wenn die Musik sogar versucht, ihnen dabei behilflich zu sein, diese zu verdrängen, gelingt aber auch nicht, selbst diese massive Musik kommt gegen die Macht der Erinnerung der Verletzten nicht an.

Es handelt sich um eine Koproduktion, die sinnvoll erschien, bei der wirtschaftliche Überlegungen nicht die künstlerische Freiheit bandagieren, sondern sie beflügeln. Kompliment an die Bavaria. Deutschland hat sich als Koproduktionsland, was zusätzlich Gelder brachte, vom Roman von Paolo Giordano, der dem Drehbuch zugrunde liegt, angeboten. Im Roman studiert Mattia irgendwo im Norden. Jena und die schönen DDR-Mosaike passen prima.

Der Primat des Künstlerischen, ja des Experimentellen scheint sich vor den Zwängen der Koproduktion durchgesetzt zu haben, durchaus zum Vorteil des Filmes.

Einzig die deutsche Synchronisation scheint von diesem künstlerischen Furor vollkommen unbeleckt, gerade die Männer schreien sowas von platt und unsensibel, wenn sie aufgeregt sind. Glück für die Filmfestbesucher: hier ist die Originalfassung mit deutschen Untertiteln angekündigt.